Worin liegt der Sinn des Erinnerns?
Wolfgang Benz: Der Nationalsozialismus war bislang die größte Katastrophe in der deutschen Geschichte. Und wenn wir uns daran nicht erinnern und bei der Gelegenheit nicht auch daran, dass es wenigstens ein paar Versuche, sich dem Unheil entgegenzusetzen, dass es auch eine kleine Minderheit von Menschen in allen politischen Lagern gegeben hat, die früher oder später nicht bereit waren, das Verhängnis nationalsozialistischer Diktatur hinzunehmen – dann können wir den Offenbarungseid leisten und sagen: Uns interessiert nur, was kommt, aber nicht, was gewesen ist. Und dann begehen wir alle Fehler möglicherweise noch einmal – dann wiederholt sich das Unglück.
„Die beiden Kirchen haben grandios versagt“
Worum muss es beim Erinnern an den Widerstand heute besonders gehen?
Benz: Ich sehe es mit einem gewissen Unbehagen, wenn zum 20. Juli ausschließlich an Stauffenberg erinnert wird und die kleine Gruppe um ihn, die unendlich spät, zu spät, nur noch eine symbolische Tat begangen hat. Denn darüber geht der Blick aufs Ganze verloren. Gab’s sonst noch was? Die Weiße Rose, ja. Und wenn man DDR-Bürger war, dann kam Widerstand nur von Kommunisten. Es geht um die Zusammenschau: Widerstand gab es in allen Bevölkerungsschichten. Die konservativen und geistigen Eliten bilden, wenn überhaupt, das Schlusslicht. Die beiden Kirchen haben grandios versagt – christlicher Widerstand kam von Einzelpersonen, aber nicht von der Amtskirche. Es geht darum, das in einem Geschichtsbild unterzubringen und die Fraktionen des Erinnerns zusammenzuführen.
Zum Beispiel?
Benz: Bei den einen heißt es: Der war ja Kommunist, der war ja kein richtiger Widerständler – deshalb wurde etwa einst Herbert Wehner verwehrt, die Gedenkrede zum 20. Juli zu halten. Die Konservativen haben bislang immer vor allem den militärischen Widerstand in den Blick genommen, der aber ganz spät kam. Andere interessieren sich nur für den Widerstand der Arbeiterbewegung, der ja auch der früheste war. Für die einen ist Georg Elser heute das Idol, aber mindestens die ersten 30 Jahre nach seinem Attentat war er vollkommen vergessen und verachtet. Und andererseits hieß es lange: Wehrmachtsdeserteur? Pfui Teufel, ein Fahnenflüchtiger, ein Landesverräter – das konnten doch keine Widerständler gewesen sein. Es war aber Widerstand, weil es lebensgefährliche Verweigerung des Dienstes am Regime war. Wir müssen die Gemeinsamkeiten an widerständigem Verhalten erkennen. Das hat man lange Zeit vernachlässigt. Aber erst, wenn wir diese sehen und uns in der Gemeinsamkeit treffen, ist der Widerstand gegen den Nationalsozialismus demokratisches Erbe.
Etwas typisch Deutsches sorgte für wenig Widerstand
Was war das Wesentliche?
Benz: Die entscheidende Frage ist: Wie gefährlich war es, Widerstand zu leisten. Nach 1945 haben praktisch alle behauptet, sie seien irgendwie dagegen gewesen – aber man habe halt nichts machen können. Das war eine Legende. Und regimekritischen Austausch mit Freunden zu pflegen, auf die man sich verlassen konnte, war auch noch kein Widerstand. Widerstand war, wenn man aus der Erkenntnis heraus, dass das NS-System verbrecherisch war, eine Änderung herbeiführen wollte – durch Propaganda oder durch Hilfe für Verfolgte, durch Verweigerung des Wehrdienstes, durch aktive Tat wie den Tyrannenmord oder durch Planungen für ein besseres Deutschland nach Hitler, die die Beseitigung Hitlers voraussetzen. Das wurde barbarisch vom Regime geahndet. Die Erkenntnis, aus einem bestimmten Wertegefühl heraus: Dieses Regime ist verderblich, und man muss dazu beitragen, es zu ändern – das war Widerstand, und das war untrennbar mit einer hohen Selbstgefährdung verbunden.
Lag es an daran, dass es so wenig Widerstand gegeben hat?
Benz: Nein. Es lag daran, dass eine stillschweigende Mehrheit von den Anfangserfolgen der Hitler-Regierung nachhaltig begeistert war. Dass man an die von der Propaganda verkündeten Erfolge glaubte. Weimar ging ja daran zugrunde, dass es zu wenig Demokraten gab. Aber es gab so viele nationalbewusste Patrioten, die den verkündeten Erfolgen wie der Überwindung des Versailler Vertrages sehr freudig zustimmten. Die Erkenntnis, dass das mit Verbrechen einherging und mit einer ganz unglaublichen Hypothek auf die Zukunft erkauft war, die etwa dem scharf blickenden Schreinergesellen Georg Elser ganz früh kam – sie kam den vielen national Empfindenden, den Offizieren, Rechtsanwälten und Professoren zu spät.
Liegt darin etwas typisch Deutsches?
Benz: Natürlich. Denn die Sozialisation der Menschen, die so ab 1880/90 geboren sind, also derjenigen, die im Dritten Reich zu den Eliten gehörten, war nicht demokratisch. Sie war obrigkeitsfromm, militaristisch, auf Befehl und Gehorsam abgestellt. Und auch wenn man den Nationalsozialismus etwa aus katholischem Glauben heraus ablehnte, so war man doch so erzogen, dass man nicht die Hand gegen das Regime erhob. Und als Deutschland dann im Krieg war, war es für die überwiegende Mehrzahl überhaupt nicht relevant, dass dieser Krieg ja durch einen deutschen Überfall auf die Nachbarn hervorgerufen war – da zählte nur noch, dass jetzt das Vaterland bedroht war: „Wir dürfen also nichts gegen die Regierung tun, wir müssen uns erst des äußeren Feindes erwehren, ehe wir im Inneren Ordnung schaffen können.“ So dachten auch Hitler-Gegner. In der deutschen Seele rang ja das Gefühl: Diese Regierung hat uns wieder zu Großmacht-Bedeutung gebracht. Endlich haben wir Frankreich besiegt – die nationalstolzen Gefühle waren in der Regel stärker als das Unbehagen über das, was dieses Regime etwa gegenüber slawischen Völkern, von Juden ganz zu schweigen, an Vernichtungspotenzial entwickelte.
AfD: „demokratiegefährdender Lichtsinn oder böse Absicht“
Ist das nicht eine heute wieder erstarkende Geisteshaltung: Wir müssen zuallererst auf Bedeutung und Bestand unserer Nation schauen, müssen auch stolz sein. Und dürfen darum nun nicht so auf historische Fehler starren …
Benz: Das macht uns die sogenannte Alternative für Deutschland vor, wenn deren Vordenker diesen gefährlichen Abschnitt der deutschen Geschichte mit der Bedeutung eines Vogelschisses erklärt: Das ist die Verweigerung einer jeden Erkenntnis aus schwieriger Vergangenheit. Es ist bestürzend, wie schnell und absichtsvoll man da das Rad der Geschichte zurückdrehen will in die Zeiten des Nationalstaates und des Nationalismus, die unwiederbringlich vorbei sind. Wir leben in einer globalisierten Welt, müssen entsprechende politische Verhaltensweisen entwickeln. Mit alten Parolen nach der alten nationalen Herrlichkeit, die eigentlich und vor allem für Deutschland nur Unglück gebracht hat, zu greinen, das ist mindestens demokratiegefährdender Leichtsinn – oder böse Absicht.
Wenn andererseits einer Studie nach nur noch die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland von dem Wort Auschwitz die Verbindung zu Konzentrationslager und Nationalsozialismus knüpfen – bereitet Ihnen das zusätzlich Sorgen?
Benz: Es interessiert mich wenig, wenn dem „Messbaren“ in Umfragen gehuldigt wird. Und die Klage, die dann daran festgemacht wird, halte ich für belanglos. Der Schüler muss nicht unbedingt den Ortsnamen kennen, wenn er weiß, dass namenlose Verbrechen aus rein ideologischen Gründen begangen wurden, um Deutschlands vermeintliche Größe zu beweisen. Wenn Jugendliche das Wesentliche verstanden haben und die Grundeinsicht in die Notwendigkeit demokratischen Verhaltens, dann habe ich mit faktischen Wissenslücken kein Problem. Geschichtsunterricht muss nicht automatisch das Allerspannendste für einen 12- oder 15-Jährigen sein. Das Grundwissen, und das glaube ich, das ist vorhanden. Die uralte Klage über unwissende Schüler ist Effekthascherei und Skandalisierung.
Das aktuelle Buch
Wolfgang Benz: „Im Widerstand“, C. H. Beck, 556 S., 32 Euro