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Interview: Sibylle Berg: "Unser Recht auf Privatheit wird abgeschafft"

Interview

Sibylle Berg: "Unser Recht auf Privatheit wird abgeschafft"

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    Sibylle Berg wird mit dem Brechtpreis geehrt.
    Sibylle Berg wird mit dem Brechtpreis geehrt. Foto: Martin Schutt/zb, dpa

    Sibylle Berg ist eine Wucht. In ihren zahlreichen Romanen wie zuletzt „GRM – Brainfuck“, ihren Kolumnen, ihren Theaterstücken – immer sind die Worte hart und klar, die Analysen schneidend. Aber gerade jetzt, vor Ihrer Auszeichnung mit dem Augsburger Brechtpreis: plötzlich Stille. Die Autorin in ihrem einen jährlichen Urlaub, betont weit weg, Asien, nicht erreichbar, Rückkehr erst am Tag der Verleihung. Blieb nur die Hoffnung, ihr Fragen hinterherzuschicken – die sie vielleicht doch locken und interessieren? Tatsächlich, antwortete, aber nicht zu Bertolt Brecht, in dessen Nachfolge man sie ja durchaus sehen kann – dazu wohl mehr bei ihrer Preisrede am Dienstag in Augsburg. Sondern wieder sind es die folgenden zeitkritischen Analysen. Hier die schriftlich gesandten Antworten der Autorin.

    Hoffen Sie noch auf die Politik? Auf die Demokratie?

    Sibylle Berg: Politik in einem demokratischen System ist ja nichts, auf das die Einzelne hofft, sondern es steht ihr frei, politisch zu agieren. In Parteien, außerparlamentarisch oder im trägeren Fall – im Wahlprozess. Diese Errungenschaft, uns aktiv einbringen zu können, erscheint mir als viel zu wertvoll, als dass man ungenutzt abwarten sollte, was andere Menschen entscheiden. Ich habe kein besonderes Verhältnis zu angenommenen Obrigkeiten. Der Staat sind wir. Ich finde interessant, ob es nicht noch intelligentere Formen der Demokratie gibt als den Einsatz von Berufspolitikern. Es gibt großartige Ideen für eine wirkungsvollere, der Zeit angepasstere demokratische Politik – dezentralisierte Entscheidungsgewalt, die vermehrte Beteiligung von Wissenschaftler/-innen in der Leitung eines Staates, Losverfahren und vieles andere. Der Schritt in Richtung faschistisch-populistischer Diktatur als Durchmarscherleichterung der neoliberalen Bullshit-Idee des grenzenlosen Wachstums (des Reichtums weniger) scheint mir so albern, dass mir kaum etwas dazu einfällt, außer die neuen Hampelmänner der superreichen Staatshasser befremdet anzustarren wie einen Unfall und zu hoffen, dass sie vorbeigehen werden wie eine Grippe, die die Welt befallen hat.

    Was heißt es da heute, links zu sein?

    Sibylle Berg: Links bedeutet im Kern, von der Gleichheit aller Menschen auszugehen. Die Qualität eines Landes bemesse ich im Umgang mit ihren Minderheiten und ökonomisch schlecht Gestellten. Die meisten Weltanschauungen im rechten oder rechtskonservativen Spektrum sind mir zu egoistisch und vulgär. Zu besitzen um des Besitzes willen, beleidigt meinen Verstand im Angesicht der Sterblichkeit, die jedem klar sein sollte.

    In Ihrem aktuellen, mit vielen Preisen bedachten Buch „GRM“ schneiden Sie auch wieder hart in die Konflikte der Gegenwart. Weil es Ihrer Auffassung von der Aufgabe des Künstlers in der Gesellschaft entspricht? Oder weil Sie persönlich einfach so sind, wenn Sie denken und schreiben?

    Sibylle Berg: Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit einer Autorin und ihrer Arbeit. Wobei sich die Gesellschaft oder, sagen wir, die Kunstkritik weitgehend darauf geeinigt hat, zwischen Autorin, Künstlerin und Werk zu trennen, wie der Nobelpreis für Peter Handke aktuell zeigt. Oder auch die Trennung zwischen den bekannten unangenehmen Eigenschaften Bertolt Brechts und seinem Werk. Ich bin an Entwicklung, Zeitgeschehen, Technik und Hintergründen in meiner Arbeit mehr interessiert als an Well-Made-Literatur oder Naturbeschreibungen. Die Sprache dient mir immer nur als Transportmittel für Theorien, und hat keinen Selbstzweck. Und die meisten meiner Bücher und Stücke sind Versuchsanordnungen. Sicher gibt es Menschen, die glauben, komplett unpolitisch zu sein, aber auch das ist schon wieder politisch, denn es bedeutet: Die Welt und die Gesellschaft, in der ich lebe, interessieren mich nur als Bühnenbild meines Egos.

    Es geht darin, wie so oft bei Ihnen, darum, menschliche Verheerungen aufzudecken. Das kann man ja immer als drohend und also notwendig zu markieren ansehen. Befinden wir uns aber heute in einer Zeit, in der besonderer Alarm angebracht ist?

    Sibylle Berg: Jede Zeit schien den Menschen die schrecklichste. Ob der Angriff Amerikas auf Vietnam. Die Nazidiktatur. Die Kommunistenjäger, der Kalte Krieg, die Pest. Heute sind die Menschen weltweit besser ausgebildet, die Lebenserwartung global ist gestiegen, neue Kräfteverhältnisse entstehen, die Unwichtigkeit Europas, der Abstieg Amerikas, das Erstarken Chinas und asiatischer Länder – das ist alles interessant, oder? Die Zeit, in der wir leben, ist eventuell besonders kritisch für das Überleben der menschlichen Spezies. Wir erleben eine exponentielle Beschleunigung von Technik und Forschung, aber auch Klimaveränderung und Ressourcenschwinden. Schauen wir mal, wie es ausgeht.

    In „GRM“ ist das Szenario einer durch den technischen Fortschritt leichter werdenden Totalüberwachung und Kategorisierung von Menschen erlebbar. Ist das für Sie die größte, aktuelle Gefahr?

    Sibylle Berg: Gefahr für wen? Wenn momentan wenige große Spieler der Welt – Mercer, Koch, Thiel und andere Milliardäre der alten und neuen Industrie – die Weltpolitik manipulieren, wenn sie mithilfe russischer Troll-Armeen Abstimmungen wie den Brexit beeinflussen, gegen den Klimawandel desinformieren, die freie Presse denunzieren, dann ist die Frage: Warum sie das tun? Wissen sie, dass die Ressourcen knapp werden und man einige Milliarden Menschen, sagen wir, freundlich aussterben lassen muss, um Bürgerkriege und Aufstände zu verhindern? Ist die kleine Gefahr für freiheitlich demokratisch humanistisch denkende und agierende Menschen die Putztruppe der Neoliberalen – die Neu-Rechte, neupopulistische Bewegung eine Gefahr? Die durch Künstliche Intelligenz, also KI, getriebene Möglichkeit von Überwachung, Bestrafung, Maßreglung und Eliminierung ist ein neuer, interessanter Aspekt, der vielen Bürgerinnen aber vielleicht nicht bedrohlich erscheint. In meinem Buch wird ein Staat geschildert, in dem die Nutzung der mit KI gekoppelten Überwachungstechnologie, mit der Manipulation durch Belohnung der Bürgerinnen gekoppelt wird. Was ja bei uns auch schon oft im Kassensystem zum Einsatz kommt. Wir werden finanziell belohnt, wenn wir unsere Daten der Versicherung schenken und uns korrekt benehmen. Was soll daran schon falsch sein? Es ist bemerkenswert, dass der neoliberale Gedanke, der sich mehr und mehr in den Gesellschaften etabliert, ja eigentlich von größtmöglicher privater Freiheit und Unabhängigkeit von einem Staat ausgeht. Nun, das gilt aber wie immer nur für wenige sehr Wohlhabende. Mit der Überwachung – auch der, die wir bereits erleben und die so gefährlich ist, weil wir sie nicht spüren – wird schrittweise unser aller Menschenrecht auf Privatheit abgeschafft. Aber das scheint vielen gar nicht so wichtig.

    Wie viel Zuversicht für die Zukunft bleibt Ihnen eigentlich noch bei all der Klarsicht, mit der Sie in die drohenden oder bereits klaffenden Abgründe schauen?

    Sibylle Berg: Ich wiederhole mich da gerne: Das Leben eines Einzelnen war immer schon schrecklich, denn wir wissen, wie es endet. Ich weiß um meine Privilegien und bin ein sehr glücklicher Mensch. Und ich weiß, dass Zufriedenheit und Behäbigkeit gute Freunde sind, und bleibe darum wach. Und versuche im Rahmen meiner Möglichkeiten, die Welt politisch zu verbessern. Und gute Bücher und Stücke zu schreiben. Mehr liegt nicht drin.

    Mehr zur Preisvergabe an Sibylle Berg lesen Sie hier.

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