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Interview: Sandra Richter: Auch Computerspiele gehören ins Literaturarchiv

Interview

Sandra Richter: Auch Computerspiele gehören ins Literaturarchiv

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    In Marbach dreht sich nicht alles bloß im Papier: Archivdirektorin Sandra Richter.
    In Marbach dreht sich nicht alles bloß im Papier: Archivdirektorin Sandra Richter. Foto: Fabian Sommer, dpa

    Frau Richter, die Literatur scheint in der Krise zu stecken: Buchverkauf rückläufig, mehrere Verlage in Schwierigkeiten, Deutschlands größter Buchgroßhändler insolvent - solche Tendenzen können ein Literaturarchiv vermutlich nicht kalt lassen …

    Sandra Richter: Moment! Da muss man sauber unterscheiden. Der Buchmarkt scheint in der Krise, weil weniger Bücher abgesetzt werden, sodass Verlage kaum mehr existieren können. Die Literatur ist deshalb noch nicht in der Krise. Ihr geht es vielleicht sogar gut, weil sie über viele Themen schreiben kann. Und was den Grossisten betrifft – hier zeigt sich der tiefgreifende Strukturwandel, mit allen Folgen von Konzentrationsprozessen und anderem. Es scheint also verschiedene Phänomene zu geben in diesem Spektrum, die es lohnten, genauer betrachtet zu werden.

    Die Ökonomie ist das eine. Andererseits hört man inzwischen auch Gymnasiasten klagen, sie könnten zwar ein Gedicht interpretieren, aber noch lange kein Steuerformular ausfüllen. Deutet das nicht doch auf eine Sinnkrise der Literatur hin?

    Richter: Ich glaube, dass Probleme mit dem Steuerformular an unserem komplizierten Steuerrecht liegen … Dagegen könnte die Literatur durchaus dazu beitragen, vieles in der Welt zu beschreiben und zu verstehen. Und wer eine Oden-Strophe analysieren kann, wird vermutlich auch in der Lage sein, sich durch eine komplizierte Steuererklärung zu arbeiten.

    Seit Jahresbeginn sind Sie Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Hat ein im Grunde auf Papier basiertes Archiv wie das von Ihnen geleitete überhaupt noch Bedeutung in einer Zeit, in der das Wissen zunehmend digital abgerufen wird?

    Richter: Das Deutsche Literaturarchiv ist seit einigen Jahren dabei, eine Expertise für sogenannte Born-digitals aufzubauen. Das sind Texte, die digital entstanden sind, zu denen es keine analoge Vorlage gibt. Diese Born-digitals zu archivieren, ist eine Aufgabe der Zukunft. Die Nachlässe, die wir von Autoren bekommen, enthalten zunehmend solche digitalen Materialien – E-Mails ohnehin, aber auch am Rechner geschriebene Skripte. Ein rein papierenes Archiv war Marbach streng genommen noch nie. Wir arbeiten aber immer stärker auch mit maschinell gestützten Techniken.

    Eine virtuelle Datei hat sicher nicht eine solche Aura wie ein handgeschriebener Brief. Wegen eines Datensatzes muss man eigentlich nicht mehr Ihrem schönen Marbacher Literaturmuseum einen Besuch abstatten.

    Richter: Ich glaube, dass ,Objekte’ und ,Stimmen’ immer wichtiger werden. Auch Musiker verdienen ihr Geld heute nicht mehr primär über Tonträger, sondern über Konzerte. Etwas ähnliches beobachten wir in der Literatur. Es gibt viele Ereignisse drumherum, Literaturfestivals etwa oder Lesungen. Diese zeichnet das DLA auf, denn wir sind auch ein Stimmarchiv – wir halten in Marbach Stimmaufnahmen aus über hundert Jahren vor. Damit gewinnt auch so etwas wie ein Kult um das Schreiben neue Bedeutung. Und was die Objekte betrifft, so ist etwa der Hut von W.G. Sebald für das Werk dieses Autors von besonderer Bedeutung, und so auch für das Archiv.

    Ihrer Vorstellung nach sollen zum Aufgabenfeld in Marbach auch Computerspiele gehören. Weshalb sehen Sie hier ein Literaturarchiv gefordert?

    Richter: Seit etwa zwanzig Jahren gibt es Forschung zur Erzählweise von Computerspielen. Diese Forschung hat zutage gefördert, dass diese Spiele Erzählformen besitzen. Adventure Games etwa haben Figuren, einen Plot, ein Setting, sie funktionieren in gewisser Weise wie Literatur. Früher gab es Dramen auf der Bühne, dann kam der Film, jetzt gibt es Computerspiele – das sind Wandlungsformen von Erzählungen. Es handelt sich um die nächste mediale Stufe von Literatur. Computerspiele haben zudem die Eigenschaft, dass sie den Spieler als Mit-Akteur einbeziehen, als einen, der nicht nur rezipiert, sondern etwas tut. Das ist etwas Neues, und wir müssen lernen, dieses Neue zu beschreiben. Was nicht bedeutet, dass Marbach nun jedes Computerspiel sammeln wird, wohl aber die, die in hohem Maße Erzählstrukturen enthalten.

    Die "Buddenbrooks" gingen parallel mit der Entdeckung des Computers

    Spielen Sie selbst am Computer?

    Richter: Ich habe im Alter von vielleicht zehn Jahren die „Buddenbrooks“ entdeckt und parallel dazu das erste Mal ein Computerspiel gespielt. Diese Vielfalt verschiedener Medien ist mir immer wichtig gewesen, wobei die Literatur für mich das wichtigste Medium ist. Früher hat man ebenfalls nicht nur gelesen, sondern auch gespielt: Goethe beispielsweise hat das Gänsespiel gespielt und darüber gedichtet. Heute erfüllen Computerspiele ähnliche Funktionen.

    Vom lesenden Publikum wird das Deutsche Literaturarchiv vor allem über sein Literaturmuseum und die dortigen Ausstellungen wahrgenommen. Welche Pläne haben Sie hierfür?

    Richter: Im Sommer wird es eine Ausstellung über Kabarett geben, in der wir uns fragen wollen, wann und worüber wir lachen. Das Literaturarchiv beherbergt wunderbare Materialien zur Geschichte des Kabaretts. Im Herbst eröffnet eine Ausstellung zu Hegel und seinen Freunden, zum Ende des Jahres gibt es zwei Ausstellungen: „Hands on“ – ein Thema, das sich Hans Magnus Enzensberger gewünscht hat – handelt vom Schreiben mit der Hand und den ersten Schreibheften von Autoren. Im November eröffnet dann eine Ausstellung mit dem Titel „Tropenkoller“. Dieser Titel entstammt dem ersten Bestseller der Kolonialliteratur in deutscher Sprache, geschrieben 1894 von Frieda von Bülow. Die Ausstellung fragt nach der politischen Rolle der Literatur im Zusammenhang mit dem Kolonialismus.

    Eine Frage an die private Sandra Richter: Dreht sich auch in Ihrer Freizeit alles um Literatur?

    Richter: Vieles, aber nicht alles. Ich habe zwei kleine Töchter – und die lesen nicht immer. Wenn auch immer häufiger.

    Und Sie, was lesen Sie gerade?

    Richter: Im Augenblick lese ich Bücher für den Sachbuchpreis der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, etwa dreißig Sachbücher. Dazu brauche ich noch eine Weile. Daraus wird die Shortlist entstehen, deshalb darf ich keine Titel verraten. Was ich bei der Belletristik demnächst angehen will, ist der neue Houellebecq, „Serotonin“. Houellebecq überrascht immer und ich bin gespannt, was ich diesmal entdecken werde.

    • Sandra Richter wurde 1973 in Kassel geboren. Ihr Studium (u.a. Politische Wissenschaft und Germanistik) absolvierte sie in Hamburg und Gießen. 2008 erhielt sie eine Professur für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Seit Januar ist sie Nachfolgerin von Ulrich Raulff an der Spitze des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Sandra Richter ist verheiratet und hat zwei Töchter.
    • Das Deutsche Literaturarchiv, kurz DLA genannt, ist in Marbach am Neckar beheimatet, dem Geburtsort Friedrich Schillers. Gegründet wurde es 1955, getragen wird es von der Deutschen Schillergesellschaft. Die umfangreichen Sammlungen zur deutschen Literatur umfassen Nachlässe von Schriftstellern, Philosophen und Gelehrten, aber auch ganze Verlagsarchive (u.a. Cotta, Suhrkamp, Insel). Zum DLA gehört auch das Schiller-Nationalmuseum sowie das Literaturmuseum der Moderne, das neben seiner Dauer- auch wechselnde Ausstellungen anbietet.
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