Sie spielen ja nun schon sehr lange Beethoven – und noch mehr jetzt anlässlich seines 250. Geburtstags. Was meinen Sie: Wären Sie privat, also jenseits aller musikalischen Wellenlänge, mit Beethoven in einer Wohngemeinschaft ausgekommen?
Rudolf Buchbinder: Ich glaube schon. Man hat mich schon einmal gefragt, ob ich nicht einen ganz besonderen Wunsch habe. Und ich antwortete: 24 Stunden lang still in einer Ecke von Beethovens Zimmer zu sitzen, um ihn zu beobachten.
24 Stunden beobachten, das ist, mit Verlaub gesagt, noch keine Wohngemeinschaft.
Rudolf Buchbinder: Nun ja, Beethoven hat, als er in Wien lebte, insgesamt 60 Mal seine Wohnung gewechselt. Eine WG hätte es schon schwierig machen können.
In diesem Jahr haben Sie – verbindlich dokumentiert – Beethovens Diabelli-Variationen zum 100. Mal öffentlich gespielt. Wie viele Zyklen haben Sie denn schon von Beethovens fünf Klavierkonzerten, die Sie Anfang Oktober in Bad Wörishofen wiedergeben werden, öffentlich aufgeführt?
Rudolf Buchbinder: Oh, die habe ich nicht gezählt. Den Zyklus der 32 Beethoven-Klaviersonaten habe ich schon 60 Mal aufgeführt; ich gehe davon aus, dass ich die fünf Klavierkonzerte als Zyklus noch öfter gespielt habe – abgesehen davon, dass ich ja auch immer wieder zu einzelnen Klavierkonzerten verpflichtet wurde.
Hat sich Ihr Beethoven-Bild innerhalb Ihrer mehr als 60-jährigen praktischen Pianistenerfahrung verändert – von innen heraus und/oder aufgrund neuer musikwissenschaftlicher Forschungsergebnisse?
Rudolf Buchbinder: Mein Beethoven-Bild hat sich nicht geändert, wohl aber meine Interpretation seiner Musik. Die Forschung ist schon sehr wichtig, aber ich halte mich sowieso an seine Autografe und an die Originalausgaben. Die beste Urtext-Ausgabe ist für mich immer noch die von Franz Liszt. Heutige Beethoven-Urtextausgaben sind dagegen eine Beleidigung. Obskure Personen verzeichnen darin seltsame Fingersätze, die Phrasierungen verfälschen. Freilich wird Beethoven auch dieses Jahr überleben.
Gibt es eine Beethoven-Einspielung in Ihrem Aufnahme-Katalog, bei der Sie in manchem Detail sagen würden, jetzt habe ich eine eigene frühere Aufnahme sozusagen korrigiert?
Rudolf Buchbinder:Meine eigenen CD-Aufnahmen zu Hause sind alle originalverpackt. Ich höre sie mir nicht an. Ich habe die Aufnahmen vor dem Pressen nur einmal angehört, um sie freizugeben. Aber ich kann dennoch sagen: Mit meiner ersten Aufnahme der Beethoven-Klaviersonaten kann ich mich nicht mehr identifizieren. Mein Spiel war damals puritanisch. Ich war jung, intolerant und nicht flexibel – zum Beispiel gegenüber dem Rubato, gegenüber einem freien Spiel, wie es Beethoven selbst pflegte. Der Kritiker Joachim Kaiser hat mich dann gezwungen, die Klaviersonaten im Jahr 2011 noch einmal aufzunehmen.
Sie haben erklärt, dass Sie anstreben, am Ende Ihres Lebens den Höhepunkt Ihrer pianistischen Laufbahn zu erleben. Was müsste denn alles an eigenen Idealen zusammenfallen für diesen Höhepunkt?
Rudolf Buchbinder: Das ist schwer zu erklären. Die Ideale habe ich ja schon ungefähr skizziert. Mein Kollege Claudio Arrau hatte am Ende seines Lebens den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht. Das Bedauerliche dabei ist für mich nur: Ich werde nicht wissen, wie es weitergegangen wäre. Es gibt ja keine Steigerung mehr – so wie auch für einen 35-jährigen Dirigenten, der schon alles erreicht hat.
Sie sprechen also im Zusammenhang mit dem Höhepunkt auch vom Erfolg?
Rudolf Buchbinder: Ja natürlich. Das gehört zusammen.
Da wir gerade bei den letzten Dingen sind: Das Adagio aus dem fünften Klavierkonzert, speziell sein Beginn mit Vorschlag, hohem fis beziehungsweise a und den anschließenden Triolengängen wäre doch ein letztes, berührendes Stück Musik vor dem Sterben. Trifft das auch Ihre Gestimmtheit oder würden Sie sich etwas anderes wünschen?
Rudolf Buchbinder:Ja, das kann ich schon nachvollziehen, obwohl der Satz heute immer zu langsam gespielt wird. Er ist früher viel schneller gespielt worden. Es gibt für diesen Moment des Abschieds aber auch noch andere Stücke. Etwa das Adagio aus Schuberts Streichquintett C-Dur und das Adagietto aus Mahlers fünfter Sinfonie.
Werden wir wieder diesseitig. Im Zusammenhang mit Beethoven gefällt es Ihnen auch, wenn Klaviermusik von ihm in Verbindung mit dem Boogie-Woogie gebracht wird. Das müssen Sie erklären, denn weder harmonisch noch rhythmisch noch architektonisch ist der Boogie-Woogie ja sonderlich vielfältig.
Rudolf Buchbinder:Denken Sie an die Synkopen in der Klaviersonate opus 111. Schon Strawinsky hat die dritte Variation im zweiten Satz an einen Boogie-Woogie erinnert. Das ist ja nichts Neues. Und in jedem Klavierkonzert Beethovens stecken auch Swing-Passagen.
Sie besitzen bekanntlich viele Ausgaben der Werke Beethovens und haben in Zweifelsfragen diese auch bezüglich der Spielanweisungen abgeglichen. Gibt es noch gravierende unaufgeklärte Widersprüche in unterschiedlichen Noten-Ausgaben?
Rudolf Buchbinder: Es ist schon viel geschehen in der musikwissenschaftlichen Forschung, aber es ist auch erstaunlich, wie viele Fehler sich über Jahrzehnte hielten oder heute noch gedruckt werden. Ich denke etwa an den Finalsatz des fünften Klavierkonzerts. Man muss zwischen den Partitur-Originalausgaben, die Beethoven selbst noch genau durchsah, und den Erstausgaben unterscheiden. Die meisten Fehler passierten in den Erstausgaben. Und die Erstausgaben wurden dann für die nächsten Ausgaben kopiert – samt ihren Fehlern.
Gerade ist Ihr Festival im niederösterreichischen Grafenegg zu Ende gegangen. Es hat in diesen Zeiten ja den Vorteil, dass es im Freien stattfindet. Was ist Ihr Resümee?
Rudolf Buchbinder: Die Menschen lechzen nach Kultur, nach Musik. Das hat man schon beim Kartenvorverkauf gemerkt. Wenn man Musik hört, denkt man nicht an Gefahren. Als wir einmal drauf und dran waren, wegen drohenden Regens abzubrechen, rief das Publikum: Weitermachen! Weiterspielen! Was mich stört, das ist, dass bei den Politikern die Kultur und die Musik als Letztes kommen.
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