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Interview: Nida-Rümelin: „Eine Impfpflicht unter 50 ist nicht erforderlich“

Interview

Nida-Rümelin: „Eine Impfpflicht unter 50 ist nicht erforderlich“

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    Der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin, 67, ist auch stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Sein jüngstes Buch heißt „Die Realität des Risikos“.
    Der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin, 67, ist auch stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Sein jüngstes Buch heißt „Die Realität des Risikos“. Foto: Diane von Schoen

    Herr Nida-Rümelin, es wird jetzt diskutiert, ob wir eine allgemeine Impfpflicht brauchen. Ist sie nötig?

    Julian Nida-Rümelin: Der Ethikrat empfiehlt eine Impfpflicht für Personen, die in Pflege- und Altenheimen arbeiten. Dann ist es meiner Meinung nach nur konsequent, den nächsten Schritt zu gehen und die Insassen dieser Einrichtungen ebenfalls unter eine Impfpflicht zu stellen.

    Warum nicht alle, für die ein Impfstoff verfügbar ist?

    Nida-Rümelin: Ethisch betrachtet ist es ja so: Wir haben Eigenverantwortung. Nach der kann ich jeden Abend zwei Flaschen Rotwein trinken – und der Staat greift nicht ein. Er greift auch nicht ein, wenn mich das mit einer Leberzirrhose in eine Intensivstation bringt. Wenn wir also eine wirklich verlässliche Impfung hätten, also zu 100 Prozent wirkend, und wenn wir nicht an Kapazitätsgrenzen im Gesundheitswesen stießen, dann wären weitere staatliche Eingriffe illegitim. Denn jeder darf sich selbst schädigen. Wer sich nicht impft, riskiert eine schwere Erkrankung, jedenfalls dann, wenn älter oder gesundheitlich vorbelastet. Aber das wäre dann jedem selbst überlassen. Dann wäre auch das Argument hinfällig, dass Infizierte andere infizieren können, denn jeder könnte sich ja schützen. Und gegen Selbstgefährdung hat der Staat nicht zu intervenieren.

    Nida-Rümelin: "Das war ein echtes Versagen gewesen"

    Nun haben wir aber weder die hundertprozentige Impfsicherheit und wir stoßen an Kapazitätsgrenzen.

    Nida-Rümelin: Ja, das sind also die beiden Gründe dafür, dass der Staat trotz Impfung das Recht hat zu intervenieren. Erstens bedeutet die fehlende Impfsicherheit, dass auch die Geimpften noch vulnerabel sind, wenn auch in geringerem Maße. Deswegen müssen diese geschützt werden vor anderen. Und zweitens wollen wir verhindern, dass es zu Triage-Situationen kommt. Wenn die Hochaltrigen ein hohes Risiko haben schwer zu erkranken, insbesondere die Insassen von Alten- und Pflegeheimen, dann sollte es dort meines Erachtens ebenfalls eine Impfpflicht geben. Nicht um sich selbst zu schützen, sondern um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Denn wenn man in die Statistiken schaut: Ungefähr die Hälfte der Todesfälle im letzten Winter waren aus den Alten- und Pflegeheimen – dort ist aber nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Bevölkerung. Und die Wahrscheinlichkeit, sich in diesen Einrichtungen trotz aller Schutzmaßnahmen zu infizieren, war höher als außerhalb dieser Einrichtungen. Das ist ein echtes Versagen gewesen, dieser Einrichtungen, aber auch der Politik. Und wenn man diesen ersten Impfpflicht-Schritt gegangen ist, und auch das reicht nicht aus, was angesichts der aktuell extrem hohen und wohl weiter steigenden Inzidenzen demnächst wohl der Fall sein wird und etwa in Bayern bereits ist, dann muss man überlegen, ob man nicht allgemeine Impfpflichten vorsieht. Aber eben mit Einschränkungen.

    Welchen? Und warum?

    Nida-Rümelin: Ich halte nichts davon, diese allgemeine Impfpflicht im Alter auf alle auszudehnen, auch auf Kinder ab demnächst 5 Jahren. Denn wenn es eine Impfpflicht für einen 80-Jährigen gibt, dann kann man sicher sein, dass das in dessen ureigenstem Interesse ist. Weil die Wahrscheinlichkeit, zu Tode zu kommen, bei ihm sehr hoch ist: ein Viertel der Hochaltrigen sterben durch eine Infektion. Und die Nebenwirkungen sind in diesen Altersgruppen gering. Während etwa die Wahrscheinlichkeit bei einer 20-Jährigen, an einer Infektion schwer zu erkranken, extrem niedrig ist, zu sterben minimalst – und die Nebenwirkungen sind deutlich höher. Trotzdem spricht vieles dafür, dass auch diese sich impfen lassen sollte, weil Statistiken zeigen, dass es auch für sie selbst günstig ist. Aber für eine Pflicht reicht das nicht. Und ja, wir leben in einer Solidargemeinschaft – aber Impfpflicht als Pflicht zur Solidarität: Da zuckt man mit guten Gründen zurück. Also außer bestimmten Berufsgruppen Pflicht nur für Menschen, die zweifellos selbst davon profitieren. Und die müssen dann übrigens auch nicht konkurrieren um Impfstoffe, die nun aufgrund von Fehlplanungen und einer chaotischen Kommunikation seitens des noch amtierenden Gesundheitsministers, der alle gleichzeitig zum Boostern und Erstimpfen aufgerufen hat und zugleich das Angebot zurückgefahren hat, plötzlich knapp werden.

    Nida Rümelin: Herdenimmunität ist falsche Strategie

    Welches Alter würden Sie ansetzen?

    Nida-Rümelin: Die Daten zeigen, dass jedenfalls eine Impfpflicht bei Menschen unter 50 nicht erforderlich ist, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Es kann sich sogar herausstellen, dass eine Impfpflicht für über 70-Jährige, aus er Gruppe also, aus der 90 Prozent der Todesfälle sind, ausreicht.

    So kämen wir durch die Pandemie?

    Nida-Rümelin: Umfassendere Impfpflichten werden uns in den kommenden Wochen noch wenig helfen, aber sie können verhindern, dass der Stress der Pandemie-Maßnahmen sich im Jahresrhythmus wiederholt. Im Hintergrund der Auseinandersetzung stehen zwei gegensätzliche Paradigmen, sie spielen, auch wenn uns das nicht bewusst ist, in die aktuellen Debatten immer wieder hinein. Die einen hängen immer noch dem Paradigma „No Covid“ an, sagen: Wir müssen diese Pandemie beseitigen, durch Herdenimmunität, erreicht durch hohe Impfquoten. Wenn das erreichbar ist, wunderbar. Aber ich habe daran immer schon gezweifelt. Einmal, weil wir keine Herde sind, keine wohl abgegrenzte Gemeinschaft. Zum anderen wegen der Jüngeren, die wir zumindest bislang nicht impfen konnten. Und schließlich wegen einer gewissen Zahl von Impfverweigerern, die sich zumindest in Teilen vermutlich auch weigerten, wenn es eine Impfpflicht gäbe. Und das Vierte ist, dass die Virus-Varianten tendenziell immer infektiöser werden – mit Omikron könnte das dramatisch zunehmen, wenn sich bisherigen Informationen bewahrheiten. Dann wird es immer unwahrscheinlicher, dass wir mit Impfungen eine Herdenimmunität erreichen. Und darum brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Die Zielsetzung muss sein: Die Erkrankungen, die ins Krankenhaus, auf die Intensivstation oder zum Tode führen, so weit zu drücken, dass es auf ein erträgliches Maß begrenzt ist. Wir müssen es vergleichen mit anderen Risiken, mit denen wir seit langem umgehen. Der nahe liegende Vergleich ist die Grippe. Nicht zur Verharmlosung, denn Covid-19 ist ohne Gegenmaßnahmen, ohne Impfungen um ein Vielfaches verheerender für diese drei Größen. Die Hoffnung ist, dass wir dieses Drücken durch Hygieneregeln und Beschränkungen für alle, durch den Impffortschritt, rechtzeitige Boosterung und durch Impfpflichten bei bestimmten Gruppen der Bevölkerung erreichen – dann können wir mit dem Virus leben lernen. Dann kann es eingehen in die Reihe der vier schon vorhandenen Corona-Typen, mit denen wir leben, und ist dann nicht mehr gefährlicher als eine saisonale Grippe. Die ist gefährlich genug, aber da ergreifen wir bislang nie Lockdown- Maßnahmen, nicht einmal eine Maskenpflicht gibt es – und dabei sollten wir es auch belassen.

    Werden auch nur teilweise Impfpflichten nicht das verschärfen, was ohnehin schon oft diagnostiziert wird: eine Spaltung der Gesellschaft?

    Nida-Rümelin: Es ist natürlich spekulativ, was passieren wird, wenn … Aber ich bin ziemlich sicher, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird. Was wir gegenwärtig haben ist ja das verbreitete Gefühl: Den Menschen ist etwas versprochen worden, es gibt keine Impfpflicht und, wie Ministerpräsident Söder hinzugefügt hat, es wird auch kein Druck auf Ungeimpfte ausgeübt – und das Gegenteil geschieht. Der Druck auf Ungeimpfte steigt und steigt, bis hin zur sozialen Ausgrenzung, ein Lockdown für Ungeimpfte, die zwischenzeitlich auch für die Testungen selbst zahlen mussten. Es gibt also de facto eine Impfpflicht durch die Hintertür durch diesen Druck und durch eine Moralisierung der Debatte samt wüsten wechselseitigen Beschimpfungen in den sogenannten Sozialen Medien. Eine allgemeine Impfpflicht kann auf all das verzichten. Sie sagt: Das ist nun mal die Regel, ihr seid jetzt älter als Siebzig, das ist in eurem eigenen Interesse – und der Staat übernimmt übrigens damit auch eine Verantwortung für die Folgen. Aber dann sind weitergehende Maßnahmen nicht erforderlich. Natürlich nicht von jetzt auf gleich – aber sobald diese Impfpflicht ihren Effekt entfaltet, braucht es keine Druckmittel mehr. Manche sind jedenfalls sicher nicht aus Gründen der Risikoabschätzung ergriffen worden. Denn ob zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit für eine nicht-geimpfte Person mit frischem Negativtest höher ist, infektiös zu sein, als bei einer Person, die vor sieben Monaten doppelt geimpft worden ist, da bin ich mir nicht so sicher. Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist die Ungleichbehandlung aus Gründen der Risikominimierung nicht gerechtfertigt. Dann macht man das, damit Menschen sich impfen lassen. Was nachvollziehbar ist – aber es führt natürlich zur Spaltung der Gesellschaft.

    "Man muss alles tun, um Lockdown zu vermeiden. Das ist nicht geschehen!"

    Sie haben oft gewarnt, wir dürften nicht in immer einen neuen Lockdown hineinlaufen. Jetzt mehren sich die Stimmen, die diesen wieder fordern.

    Nida-Rümelin: Lockdown, das ist die mittelalterliche Reaktion. Das hat geholfen, wenn es frühzeitig erfolgte. Aber es hat eben dramatische Nebenfolgen: Berufsverlust, Verlust der wirtschaftlichen Existenz, die man sich aufgebaut hat, dramatische Bildungsfolgen, Familienkrisen… Da ist viel Verzweiflung im Spiel. Gerade auch in nicht wenigen Familien, die nicht wissen, wie sie Arbeit und Kinderbetreuung dann noch bewältigen sollen. Der Lockdown ist die uninspirierteste Reaktion. Aber wieder haben die Gesundheitsämter die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren. Unter anderem, weil wir keine verpflichtende Corona-App haben, weil sie nicht über einen zentralen Server läuft … Wegen eines teilweise dysfunktionalen Datenschutz, der ausgerechnet in der Pandemie zu Höchstform aufläuft – und in der gleichen Zeit sterben hunderttausend Menschen. Das ist grotesk! Lockdown-Maßnahmen können nur das allerletzte Mittel sein, man muss alles tun, um sie zu vermeiden. Und das ist nicht geschehen! Global gesehen – ich zitiere den scheidenden Entwicklungsminister Müller – haben Lockdownmaßnahmen für mehr Todesopfer gesorgt als Covid-19, durch Verelendung, Armut oder andere Krankheiten, die sich ausgebreitet haben …

    Aber wird der Lockdown angesichts der sich nun zuspitzenden Lage nötig?

    Nida-Rümelin: Es könnte sein, dass auch die Tatsache, dass die Leute bereits spürbar weniger ausgehen, hilft, dass wir noch glimpflich davonkommen und darauf verzichten können. Ich hoffe es sehr.

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