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Interview: Michel Friedman: Deutsche Konfliktscheu ist gefährlich

Interview

Michel Friedman: Deutsche Konfliktscheu ist gefährlich

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    „Vorsicht! Friedman“ hieß eine der Talksendungen, die der streitbare Michel Friedman moderiert hat. Sein neues Buch heißt „Streiten? Unbedingt!“.
    „Vorsicht! Friedman“ hieß eine der Talksendungen, die der streitbare Michel Friedman moderiert hat. Sein neues Buch heißt „Streiten? Unbedingt!“. Foto: Nicci Kuhn

    Michel Friedman: Haben Sie das Buch gelesen? Und haben Sie denn Anregendes darin gefunden?

    Natürlich habe ich es gelesen. Und sehr eindrücklich fand ich, wie Sie den spezifischen Mangel an Streitkultur in Deutschland auch historisch begründen – mit Hinweis darauf, „dass das Schweigegebot, das nach 1945 die Diskursräume in

    Friedman: Die umfassende Analyse, ob eine Demokratie besser dasteht als eine andere, ist mit diesem einen Fokus natürlich nicht durchführbar. Der Streit jedenfalls ist der Sauerstoff der Demokratie. Das Wie ist dabei immer das Wichtigste einer Verhandlungssache. Darum ist der Begriff Streitkultur auch etwas zu kurz gegriffen. Es gibt unterschiedliche Streitkulturen. Und da haben andere Gesellschaften eben eine deutlich tiefere und längere Tradition als Deutschland, das im Vergleich zu Großbritannien oder Frankreich ja auch ein sehr junges demokratisches Land ist. In Großbritannien etwa gibt es schon in sehr früher Zeit „Debating Clubs“, in denen Studentinnen und Studenten nicht durch ihre eigene Haltung, sondern per Los ihre Position bestimmt bekommen – weil ein konstruktiver Streit nur funktioniert, wenn die Parteien auch bereit sind, sich in die Positionen der anderen hineinzudenken. Sonst ist es nur ein zweifacher Monolog, der aufeinanderprallt. Dazu kam im breiteren Austausch die „Speakers’ Corner“ etwa im Hyde Park, wo jeder dazu aufgerufen war, öffentlich seine Haltung kundzutun… All diese Dinge sind in Deutschland bis heute nur rudimentär vorhanden.

    Deutschland, "eine Konsens- und Sehnsuchsgesellschaft", sagt Friedmann

    Sie beschreiben Deutschland als „Konsensgesellschaft“ …

    Friedman: Ja, wir haben auch in den letzten 30 Jahren trotz deutlicher Exzesse an den Rändern feststellen können, dass wir insgesamt eine konsensorientierte Gesellschaft sind. Diese realisiert die Sehnsucht nach Harmonie. Aber Harmonie kann nicht der Weg der Zukunft sein. Der ist immer die Disharmonie, also der Konflikt, das Warum – also das, was die Harmonie aufbricht, sie in Zweifel stellt. Was sich im Streit ausdrückt, ist also die Voraussetzung für Fortschritt. Konsens ist Stillstand. Und der Stillstand ist eben auch der Rückstand.

    Haben 16 Merkel-Jahre das noch verstärkt? Außer in den Krisen wurde der Kanzlerin ja die Neigung vorgeworfen, nach Stimmung der Mehrheit zu regieren, im Konsens eben …

    Friedman: Ich würde so etwas nie personifizieren, das überhöht in einer Demokratie eine Person als die verantwortungsgebende für eine gesellschaftliche Entwicklung. Schon vor den Merkel-Jahren gab es diese Konsens- und Sehnsuchtsgesellschaft, die aber eben unterbrochen wird durch mehrere Krisen. Die grundlegendste

    Aber geändert hat es nichts?

    Friedman: Es ist dabei geblieben, dass die große Sehnsucht in dieser Zeit eine Harmonisierung oder eine Re-Harmonisierung ist. Das spiegeln ja auch die politischen Realitäten wieder: eine Große Koalition – um die es sich inzwischen den Prozenten nach allerdings ja gar nicht mehr handelt. Es ist die Sehnsucht, dass Politik nicht im Streiten im Konflikt endet, damit dieser sich in der Bevölkerung nicht zu einer konfliktgeladenen Diskussionsnotwendigkeit entwickelt. Wenn aber das nicht der Fall ist, fällt nicht nur die Streitkultur in sich zusammen, sondern auch demokratische Säulen sind in Gefahr. Denn der Streit ist ja auch eine der Kontrollmethoden innerhalb der Demokratie.

    "Nach 1945 galt Streit als gefährlich - und bis heute ist er nicht geübt"

    Streit scheint uns nichts Gutes …

    Friedman: Streit ist in Deutschland eher noch mit dem Negativen behaftet, er hat in Deutschland keinen guten Ruf. Weil Streit ja auch anstrengend ist. Er setzt voraus, dass man eine Haltung in sich selbst entwickelt, sie nach außen darstellt, sich damit in Konflikt mit anderen Positionen setzt. Und es ist noch mal anstrengend, weil ich dazu argumentieren muss – aber auch wissen muss, auch anstrengend. Und denken muss ich bei der Gelegenheit auch noch. Wenn man allein diese Prozesse nimmt, dann merkt man, dass nach 1945 das, was als „Streit ist gefährlich“ empfunden wurde, weil es unter Umständen in die Biografien hineingedrungen ist, auch im 21. Jahrhundert nicht geübt ist. Und dann kann man davon ja auch erst mal „Muskelkater“ bekommen…

    Nun schreiben Sie aber über die Konsensgesellschaft: „Der Zustand wird sich spätestens nach der Corona-Krise ändern.“ Klingt nach einer Chance.

    Friedman: Werden wir nicht miteinander streiten in den nächsten Jahren, dann wird der Rückstand, den wir sowieso schon haben in der Verhandlung über dieses 21. Jahrhundert, weiter wachsen. Wir werden zu der Verlierergruppe gehören. Aber ja, es gibt Chancen, die uns die Pandemie angeboten hat: Sie hat uns die Notwendigkeit einer schonungslosen Bestandsaufnahme aufgezeigt und einer streitigen Diskussion darüber, wie wir unsere Werte und die Demokratie verhandeln, wie wir Lösungen finden für alle unsere Rückstände. Wenn wir uns dem stellen und man das auf eine demokratische Streitkultur umsetzt, dann bin ich nicht pessimistisch für die nächsten Jahre.

    Was drängt zur Klärung?

    Friedmann: Die vielen Grundlagen, die sich in diesem 21. Jahrhundert verändert haben! Allein in der geostrategischen Situation: Amerika ist nicht mehr die automatische Schutzmacht für Europa; der neue, imperialistische, aggressive Weg, den Russland geht; die Veränderung der ökonomischen Machtstrategie durch China. Es ist unverzichtbar, über den Umgang damit zu streiten.

    Das konstruktiv zu machen, erscheint aber auch immer schwerer angesichts der Dauererhitzung der Debatten im Internet, von Fake News… Sie schreiben ja noch, was heute als Chaos erscheint, wird uns „in zehn Jahren rückblickend als geordnet“ vorkommen.

    Friedman: Apropos Fake News: Eine Lüge ist keine Tatsache, sondern bleibt eine Lüge. Wir erleben in der digitalen Welt, dass es dort das Gegenteil einer Streitkultur gibt: persönliche Beleidigung, Lüge, Diffamierung, Hetze auf der persönlichen Ebene – aber auch durch Staaten die Manipulation von Information bis hin zu Wahlen. Eigentlich ist der digitale Raum die größte Chance der Menschheit: Noch nie konnten so viele Menschen sich informieren, lernen. Gleichzeitig ist die Chance vergiftet, wenn wir es nicht schaffen, die Lüge, die dem Streit jede Grundlage entzieht, zu verhindern. Aber auch die digitalen Räume sind Autobahnen, die von Menschen gespeist werden. Verstärkt durch technische Möglichkeiten. Nichtsdestotrotz sind es wir Menschen, die das Ganze in Gang bringen. Auch hier geht es um die Frage der Demokratisierung, der Kontrollen, die wir als Demokratien eingeführt haben.

    Aber die sind ja keine Inseln.

    Friedman: Ja, auch Diktaturen können durch diese Kanäle eingreifen in demokratische Gesellschaften, wie wir das als Menschen noch nie erlebt haben. Die Unkontrolliertheit, aber auch die „Intelligenz“ der Lüge – diese Methodik hat es in der Perfektion und in der Masse noch nicht gegeben. Sich dagegen zu wehren ist für den Einzelnen wie für das Kollektiv schwerer geworden. Es handelt sich um gefährliche Propaganda.

    Aber kann das gelingen?

    Friedman: Ich glaube daran, dass Menschen, wenn sie Probleme erkennen, dafür auch Lösungen finden können. Wir stehen mit der digitalen Revolution vor der größten Herausforderung aller Revolutionen, weil sie unsere ganze Wahrnehmung der Welt verändert, wie wir es noch nie kannten. Na und? Dann stellen wir uns dieser Herausforderung und werden in den nächsten Jahren Antworten und Abwehrmechanismen schaffen, die – denn darum geht es bei allem – den Humanismus, die Zivilität und die Demokratie wieder beschützen. Schaffen wir das nicht, werden viele Menschen sehr leiden und es wird Schäden geben, die wir uns jetzt gar nicht ausmalen wollen.

    Mit Leugnern, Verschwörungstheoretikern, Populisten ist Streit unmöglich

    Aber was anfangen mit Menschen, die sich als Leugner, Verschwörungstheoretiker, Anhänger linker oder rechter Populisten dem Streit entziehen? Es scheinen doch immer mehr zu werden.

    Friedman: Werden sie wirklich mehr? Jedenfalls werden sie sichtbarer und unverschämter. Und, das ist ja das Paradoxe: Im Netz werden sie gleichzeitig wieder unsichtbarer. Das heißt, sie haben eine unsichtbare Sichtbarkeit der Verletzung aller Menschenrechte und können sich darum umso enthemmter verwirklichen, wo sie früher Hemmungen hatten, weil sowohl die Sozial- wie die Rechtskontrolle deutlich stärker waren. Also müssen wir auch intensiver wieder umsetzen, dass Menschen sich dort in ihrer Enthemmung nicht weiterentwickeln. Denn eine streitige Debatte ist nur möglich unter drei Bedingungen: Erstens der Anerkennung untereinander – wenn die nicht da ist, kann man sagen, was man will, es wird ohnehin nicht anerkannt, das Argument zählt dann gar nicht; zweitens, wenn wir uns auf einem Fundament von Tatsachen und Fakten unterhalten – Diskussionen, die nicht auf diesem Boden verlaufen, sind nicht nur absurd, sondern auch hochgefährlich; drittens die grundsätzliche Bereitschaft zu lernen – ohne die höre ich letztlich nicht zu, führe einen Monolog, ein Streit ist nur dann konstruktiv, wenn ich den Zweifel zulasse, in mir selbst.

    Und diejenigen, die sich dem entziehen, einfach ziehen lassen?

    Friedman: Nein. Die Gesellschaft ist ja ein gruppendynamischer politischer Raum, in dem wir einander alle beeinflussen. Und wenn ich solche Impulse bekomme, reagiere ich darauf – und man muss darauf reagieren! Man darf das nicht mit einem Streit verwechseln – aber es hat auch einen Einfluss. Und ich bleibe da Lebensoptimist, wenn auch ein sehr skeptischer: Solche Einflüsse können Menschen verändern. Ja, es wird solche geben, die sich nicht ändern und in ihrem autoritären, totalitären Gesellschafts- und Menschenbild bleiben – das ist ein Teil der gesellschaftlichen Realität. Aber das führt nicht dazu, dass man mit denen, nur weil man mit ihnen nicht streiten kann, dann gar nicht mehr in einen Diskurs tritt.

    "Es kann gar nicht zu viele Polit-Talk-Sendungen geben"

    Streiten zu lernen kann ja dadurch befördert werden, einen gelingenden Streit mitzuerleben. Inwiefern erfüllen die vielen politischen Gesprächsrunden im Fernsehen diesen Anspruch?

    Friedman: All diese Gespräche versuchen, einen aufklärerischen Charakter zu haben. Nun soll man das nicht überbewerten – aber sei es nur ein Gedanke, der bei einem Zuschauer oder einer Zuschauerin etwas hervorruft, ist das bereits ein sehr positives Ergebnis. Es gibt viele Angebote solcher Gesprächsrunden, auch im Radio und in Podcasts – und ich glaube, dass man in einer Demokratie von all dem nie zu viel haben kann, wie es in Debatten immer wieder heißt. Nein! Wenn, dann hat man zu wenige, immer. Denn das, worüber wir zu reden haben, die Themen wie auch ihre Pluralität, das setzt eine permanente Gesprächskultur voraus. Und eine alltägliche Gesprächskultur zu leben, indem wir uns über unsere Gefühle, Gedanken, Argumente, Haltungen und Meinungen so austauschen, dass wir dann keinen Muskelkater haben, wenn es dann mal konfrontativer wird – da ist noch viel Luft nach oben.

    Person und Buch
    Michel Friedman, 65, ist Sohn von Auschwitz-Überlebenden, seit vielen Jahren eine pointierte Stimme in deutschen Gesellschaftsdebatten. Und er ist, bis auf die Pause nach einer Rotlicht-Affäre 2013, in vielen Funktionen aktiv: Jurist (heute auch lehrend, in Frankfurt), Philosoph, Politiker bis hin zum zwischenzeitlichen Mitglied des CDU-Bundesvorstands, Fernsehmoderator mit eigenen Talk-Formaten, Publizist mit Büchern wie „Streiten? Unbedingt!“ (Duden-Verlag, 64 Seiten, 8 Euro
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