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Interview: Michael Wollny: "Mit Volldampf ins Unbekannte"

Interview

Michael Wollny: "Mit Volldampf ins Unbekannte"

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    Der Jazzpianist Michael Wollny, 42, ist als Jazzpianist eine Ausnahmeerscheinung.
    Der Jazzpianist Michael Wollny, 42, ist als Jazzpianist eine Ausnahmeerscheinung. Foto: Jörg Steinmetz

    Sie befinden sich gerade in Quarantäne. Hat es Sie jetzt auch erwischt?

    Michael Wollny: Zum Glück nicht. Das, was mir gerade widerfährt, ist wohl die mildeste Form von Isolation, die es gibt. Ich bin gestern Nachmittag gelandet, wurde am Flughafen getestet und bin dann mit dem Auto direkt ins Hotel gebracht worden. Hier bleibe ich jetzt auf meinem Zimmer und warte auf eine SMS mit meinem Testergebnis. Bis jetzt fühlt es sich wie ein ganz normaler Ferientag an: Ich habe lange geschlafen, liege in meinem Bett und lasse den Tag kommen. Aber irgendwann könnte schon die Zeit drängen. Ich bin ja nicht hierhergekommen, um Urlaub zu machen. Seit zwei Jahren bin ich etwa zwei bis drei Mal pro Jahr in Halden, um als „Artist in Residence“ mit dem Norwegian Wind Ensemble, einem frei improvisierenden, klassischen Orchester aus Blasinstrumenten, Programme zu erarbeiten.

    Wie fühlt es sich an, allein zu sein?

    Wollny: Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist es durchaus angenehm. Ich kannte das Alleinsein bisher eigentlich nur als selbstgewählten Zustand: Ich schließe mich ins Studio ein, um zu spielen, oder in mein Zimmer, um zu lesen, ich unternehme einen Spaziergang. Nun liegt die Entscheidung nicht mehr bei einem selbst.

    Wie haben Sie es empfunden, als der Lockdown begann? Alles vollzieht von einem Tag auf den anderen eine Vollbremsung, ihre Lehrtätigkeit, die gemeinsamen Proben, die Konzerte, Kitas, Gaststätten.

    Wollny: Mein erster Eindruck war, dass dies eine Zäsur sein könnte, eine Entschleunigung, die man sich insgeheim schon lange gewünscht hatte. Endlich dürfen wir mal durchatmen, trotz all der Angst vor dem Unbekannten, Zeit mit der Familie verbringen. Aber leider wurde dieses Gefühl ziemlich schnell von einer realen existenziellen Bedrohung abgelöst, die jeder auf eine andere Weise verspürt hat und die bis heute andauert. Meine innere Balance finde ich normalerweise zwischen zwei Wegen: Zum einen den des Nachdenkens und Analysierens, des Forschens und Verstehens, zum anderen den des Loslassens, des bewussten Kontrollverlustes, des Nicht-Bewertens, des Einfach-im-Moment-seins, was immer wieder auf der Bühne passiert. Seit einem halben Jahr gibt es das Letztere leider nicht mehr. Um vom Ersteren viel zu viel. Das ist nicht gut.

    So etwas fördert Trübsinn und Melancholie.

    Wollny: Genau! Jeder Mensch muss hin und wieder mal alles rauslassen. Deswegen genieße ich ja auch meinen Job, weil ich dabei sowohl meinen Verstand wie auch meine Emotionen und mein Bauchgefühl relativ gleichberechtigt nebeneinanderstellen kann. Für mich ist das ein absolutes Privileg.

    Ihre neue CD „Mondenkind“ ist mitten im April entstanden. Es war nicht nur eine Solo-Aufnahme, sondern gleichzeitig ein durch und durch einsamer Akt.

    Wollny: So etwas Surreales kennt man sonst nur aus Filmen. Wir wollten das Album in den Berliner Teldex Studios aufnehmen. Zwei Tage habe ich dort verbracht, habe niemanden gesehen, der Toningenieur saß drei Räume weiter. Auf dem Weg zu den Aufnahmen bin ich über eine leere Autobahn gefahren, durch eine leere Stadt, am Abend lief ich zurück in mein menschenleeres Hotel, es gab nicht nur keine weiteren Gäste, sondern auch kein Personal. In diesem Moment war ich absolut allein mit mir, der Musik und meinen Gedanken. Eines kann ich sicher sagen: Die Aufnahmen hätten im Januar oder im Mai definitiv anders geklungen.

    Was kam Ihnen dabei in den Sinn?

    Wollny: Welche Menschen ich kenne, die gezwungen sind, ihren Weg allein zu gehen. Als Erstes fiel mir der Astronaut Michael Collins ein, der mit Apollo 11 den Mond umkreiste, während Neil Armstrong und Edwin „Buzz“ Aldrin ihn als erste Menschen betraten. Mich hat interessiert, wie lange er dabei vom Blick- und Funkkontakt mit der Erde ausgeschlossen war. Der längste Blindflug dauerte 46:38 Minuten, es war die 13. Umrundung. Als ich später die Reihenfolge der Stücke festlegte, fiel mir auf, dass meine Auswahl knapp unter 47 Minuten lag. Wir haben noch sechs Sekunden rausgenommen, so dass wir ebenfalls auf 46:38 Minuten Spielzeit kamen. Das fand ich irgendwie passend.

    Sie fühlten sich Michael Collins in diesem Moment sehr nah.

    Wollny: Irgendwann schon. Der große Aufnahmeraum des Studios war wie eine Kapsel, in der ich ganz auf mich zurückgeworfen wurde, mit der Außenwelt nur durch ein Signal verbunden, das von mir nach draußen geht, ohne zu wissen, ob es überhaupt ankommt. Das ist ein sehr intensiver, intimer Moment, der mich mit den Menschen verbindet, die das irgendwann mal zu hören bekommen. Collins wurde ja in der Berichterstattung als „einsamster Mensch aller Zeiten“ stilisiert. Für mich ist er ein gutes Beispiel für einen radikalen Solisten.

    Spätestens jetzt gehören Sie wohl ebenfalls zu dieser Spezies. Welche radikalen Solisten fallen ihn noch ein?

    Wollny: Auf Anhieb der Tenorsaxofonist Heinz Sauer. Mit ihm habe ich die Ehre, immer wieder Duo-Konzerte spielen und CDs aufnehmen zu dürfen. Dann wäre da noch Joachim Kühn, der Pianist. In ihrer Art, wie beide spielen, dieser Radikalität des Andersseins, sind sie einzigartig. Viele der großen Regisseure wie David Lynch, Stanley Kubrik, David Cronenberg oder Akira Kurosawa beziehen ästhetisch radikale Positionen, alles gewissermaßen Solisten in ihrem Universum. Sie sind wie eine Eisenbahn, die mit Volldampf ins Unbekannte fährt und die sich Meter für Meter noch selbst die Gleise legen muss.

    Dennoch bleibt die Spielsituation bei „Mondenkind“ ein Dialog. In erster Linie mit der Musik, in zweiter Linie auch mit Ihnen selbst. Dafür wählen sie eher einen klassischen Ansatz. Warum?

    Wollny: Das Thema „Piano Solo“ besitzt klanglich, spielerisch und erzählerisch eine ungeheure Bandbreite. Genau diese Herangehensweise entspricht meinem Selbstverständnis als Pianist am meisten. Im Mittelpunkt der Aufnahme sollte der volle, dynamische, lebendige Raumklang eines großen Konzertflügels stehen. Keine Studiotüftelei, keine Effekte. Die Mikrofone standen ziemlich nah am Instrument, so dass ein ziemlich lebendiger Sound entstand, ähnlich wie bei Konzerten. Ich habe neue Songs geschrieben, freie Interludien, mich aber auch wieder an Titel von früher herangewagt, die ich noch nie allein spielen konnte.

    Sind Sie das Mondenkind?

    Wollny: Ich sehe die CD nicht als Selbstportrait, sondern als Momentaufnahme. Der Name „Mondenkind“ stammt aus der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende. Darin ist der Protagonist völlig allein auf sich gestellt und gibt seiner Welt einen neuen Namen. Damit belebt er sie aufs Neue. Vor dieser Aufgabe steht jeder Musiker, wenn er sich mit einem neuen Album auseinandersetzt.

    Michael Wollny: Mondenkind, ACT 9765-2/Edel

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