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Interview: Marina Abramovic: "Ich bin durch die Hölle gegangen"

Interview

Marina Abramovic: "Ich bin durch die Hölle gegangen"

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    73 Jahre alt ist Marina Abramovic und sagt: „Ich fühle mich gut und so glücklich wie noch nie.“
    73 Jahre alt ist Marina Abramovic und sagt: „Ich fühle mich gut und so glücklich wie noch nie.“ Foto: Marius Becker, dpa

    „Body of Truth“, Körper der Wahrheit – so heißt der Dokumentarfilm, der intensive Einblicke in Ihr Leben und Schaffen wirft. Aber was ist eigentlich Wahrheit?

    Marina Abramovic: Sie ist relativ. Es gibt auf diesem Planeten viele Menschen und folglich viele Wahrheiten. Was für den einen wahr ist, mag es für den anderen nicht sein. Unser Blick der Realität ist also verzerrt. Deshalb war es auch höchst interessant, als ich meine Autobiografie schrieb. Ich versuchte dabei mein Leben so ehrlich wie möglich wiederzugeben, aber eine Unzahl von Freunden meinte, sie würden sich an bestimmte Ereignisse ganz anders erinnern.

    Die Künstlerin Marina Abramovic, Regisseurin Evelyn Schels und die Künstlerin Katharina Sieverding bei der Premiere ihres Films "Body of Truth" im März in München.
    Die Künstlerin Marina Abramovic, Regisseurin Evelyn Schels und die Künstlerin Katharina Sieverding bei der Premiere ihres Films "Body of Truth" im März in München. Foto: Ursula Düren, dpa

    Andererseits beschreiben Sie im Film Zustände von transzendenter Stille. Bescheren Ihnen die keine objektive Erleuchtung?

    Abramovic: Ich gebe zu: Wenn du dich lange Zeit in einen Zustand der Stille versenkst oder wenn du mit physischem Schmerz konfrontiert bist, den du dann überwindest, dann baust du eine Verbindung zu etwas auf, was ich „flüssiges Wissen“ nenne.

    Was ist das für ein Wissen?

    Abramovic: Ein universelles Wissen, das nicht aus deiner eigenen Erfahrung stammt. Du erreichst diese Ebene, wenn dein Geist ganz offen und frei und nicht von deinen eigenen Gedanken überladen ist. Das ist ein Zustand absoluter Klarheit. Dostojewski beschreibt den in „Der Idiot“. Der Protagonist Fürst Myschkin erlebt eine unglaubliche Harmonie, Synchronizität, Erleuchtung. Diese Erfahrung ist so stark wie ein Orgasmus des Gehirns, sodass sein System das nicht mehr aushält und er einen epileptischen Anfall erleidet. Es ist schwierig, diesen Geisteszustand zu erreichen. Du musst darauf vorbereitet sein, denn sonst kannst du das nicht ertragen. Und dieses „flüssige Wissen“ kommt einer objektiven Wahrheit am nächsten.

    Wie oft haben Sie das selbst erlebt?

    Abramovic: Einige Male. Das kann aus dem Nichts kommen, wenn du das nicht erwartest. Wenn du eine Zeitung aufschlägst, die Straße langläufst oder einen Schmetterling siehst. Aber du kannst es auch an Kraftorten, wie ich das nenne, erfahren – Wasserfälle, Ozeane, Berggipfel. Die Energie, die du da spürst, reinigt dich, und plötzlich steht da eine Antwort vor dir, die du lange Zeit gesucht hast. Ich wünschte, ich könnte ständig in diesem Zustand leben.

    In der Dokumentation sprechen Sie von dem Wunsch, sich in ein tibetisches Kloster zurückzuziehen.

    Abramovic: In der Tat ist das meine Sehnsucht. Ich bin fasziniert von Mönchen, die jahrelang in eine Höhle gehen, um dort zu meditieren. Einmal konnte ich bei einem Besuch in einem Kloster in Ladakh an einer Zeremonie teilnehmen, mit der ein Mönch geehrt wurde, der zehn Jahre in einer Höhle gelebt hatte. Ich durfte neben ihm sitzen, verstand kein Wort, aber ich hatte das Gefühl, als würde ich ein Kraftwerk anzapfen. Meine Temperatur stieg, mein Körper war wie elektrifiziert, ich war rot wie eine Erdbeere. Es ist unglaublich, was Menschen erreichen können.

    Können Sie dann in solchen Phasen einen Sinn des Lebens erkennen?

    Abramovic: Ja. Es ist ein Gefühl, als wärest du mit allem und jedem verbunden, anderen Menschen, Felsen, Einrichtungsgegenständen. Alles ist Teil von allem. Du bist ein winziges Atom in einer perfekten Struktur. Als Kind dachte ich immer, das Universum ist eine große, fette Dame mit Schuhen mit großen Absätzen. Und wir Menschen leben in diesen Absätzen und werden von ihr herumgekickt. Das erinnert mich daran.

    Ihr Körper ist das zentrale Instrument für Ihre Kunst und das Vehikel für diese Erleuchtung. Führen Sie deshalb ein asketisches Leben?

    Abramovic: Meine Eltern waren Kriegshelden, und mit diesem militärischen Hintergrund habe ich mich an diesen Lebensstil gewöhnt. Zum Beispiel muss ich immer um zehn Uhr im Bett liegen, und ich versuche auch meine Performances entsprechend zu timen. Denn was zählt, ist, dass du etwas der Gesellschaft zurückgibst. Dein eigenes Leben ist nicht so wichtig.

    Vermissen Sie nichts? Ein bisschen Exzess kann ja spannend sein.

    Abramovic: Mit 14 habe ich mal eine Flasche Rum-Punsch getrunken, und es ging mir tagelang schlecht. Seither habe ich nie wieder Alkohol angerührt, und ich vermisse ihn auch nicht. Ich rauche auch nicht.

    Aber es gibt Fotos von Ihnen, die Sie rauchend zeigen.

    Abramovic: Die stammen aus den Siebzigern. Und ich habe nicht inhaliert, ich habe nur die Zigarette in der Hand gehalten, weil das so cool aussah.

    Wie ist es mit Drogen?

    Abramovic: Von denen habe ich mich ebenfalls ferngehalten. Ich habe mal Marihuana geraucht, weil das gegen meine Migräne helfen sollte. Und für ein Filmprojekt habe ich die halluzinogene Droge Ahayuasca genommen. Aber das ist nichts für mich. Ich mag es nicht, meinen Geisteszustand auf künstliche Weise zu beeinflussen. Lieber faste ich. Da esse ich schon mal 16 Tage nichts. Wenn du in dieser Zeit aufwachst, ist dein Energieniveau so was von hoch. Askese spricht mich an. Ich habe da spezielle Methoden entwickelt, eine davon heißt „Reinigen des Hauses“. Da verbringen meine Schüler oder junge Künstler eine Woche lang mit mentalen und körperlichen Übungen, während denen sie nicht essen oder sprechen. Denn die Zukunft der Kunst wird ohne Objekte auskommen. Sie besteht darin, dass der Künstler in einen energetischen Dialog mit dem Publikum tritt. Und dafür muss er oder sie sich mit bestimmten Methoden weiterentwickeln.

    In der Doku sagen Sie, dass die sexuelle Energie die stärkste sei. Wie ist Ihre Erfahrung damit?

    Abramovic: Die Frage ist immer, wie du sexuelle Energie umwandelst. Sie kann die Form von Aggression, Kreativität, Liebe oder Hass annehmen. Mit ihr kannst du Zustände absoluter Ekstase erleben, in denen du mit dem Universum verschmilzt. Aber das ist garantiert nicht einfach, zumal du das gemeinsam mit deinem Partner erreichen musst. Und den musst du erst mal finden. Nicht jeder hat dieses Glück. Ich habe es immerhin ein paar Mal erlebt.

    Wobei in Ihrem Schaffen auch Schmerz eine enorm wichtige Rolle spielt. Etwa, als Sie bei der MoMa-Performance „The Artist Is Present“ drei Monate lang sechs Tage für sieben Stunden still auf Ihrem Stuhl saßen.

    Abramovic: Der Schmerz ist die Tür zu den großen Geheimnissen. Schon in alten Kulturen und Stammesreligionen hatte er eine zentrale Funktion. Der Körper geht durch die Schwelle des Todes und dann erwacht er zu neuem Bewusstsein.

    Schmerz kann auch traumatisieren.

    Abramovic: Trauma entsteht dadurch, dass dir jemand anders Schmerz zufügt. Aber in diesem Fall geschieht das aus eigenem Willen, das ist nicht traumatisierend. Ich vergleiche gerne drei Geisteszustände – das Gefängnis, die Heilanstalt und das Kloster. Das Gefängnis ist schlecht, weil das eine Zwangssituation ist. Die Heilanstalt ist ebenfalls negativ, weil du darin krank bist. Aber das Kloster ist ideal.

    Doch nehmen wir an, ich würde mir meinen Finger abschneiden. Das ist Schmerz, den ich mir freiwillig zufüge, und trotzdem ist das für mich schädlich.

    Abramovic: Ich würde mir nie einen Finger abschneiden. Denn ich kann dahinter keine Idee erkennen. Das alles braucht ein Konzept. Und das Konzept besteht darin, dass du etwas tust, wovor du Angst hast. Wenn du das durchstehst und es hinüber auf die andere Seite schaffst, dann erlebst du pures Glück. „The Artist Is Present“ war die reinste Hölle für mich. Jeder Tag hätte der letzte sein können. Und drei Monate fühlten sich wie ein ganzes Leben an. Aber als ich dann am Schluss aufstand, war ich wie verwandelt. Das ist eine Kunst, bei der du nichts mehr vorspielen kannst. Du bist Teil einer spirituellen Gemeinschaft mit deinem Publikum, das ist eine Erfahrung von Transzendenz. Alles an Trauma und Angst hast du hinter dir gelassen.

    Doch nehmen wir an, Sie hätten sich dabei ein Rückenleiden zugezogen. Hätten Sie das Ganze bereut?

    Abramovic: Lassen Sie mich das so beantworten: Einige Male dachte ich, dass etwas Gefährliches passieren könnte. Aber schauen Sie mich an: Ich werde im November 74. Ich fühle mich gut und so glücklich wie noch nie. Ja, ich bin durch die Hölle gegangen – aber ich würde nichts daran ändern wollen. Wenn du etwas mit einem konkreten Konzept durchziehen willst, dann funktioniert das auch. Die Leute sagen: Du bist verrückt, du schaffst das nicht. Aber dann machst du’s, und alles ist okay. Es ist wie bei einem Betrunkenen. Wenn er fällt, dann verletzt er sich nicht, weil ihn sein Rausch irgendwie beschützt. Und so habe ich das Gefühl, dass es irgendwelche Schutzgeister da oben gibt, die mich vor allem Schaden bewahren.

    In der bayerischen Staatsoper wird am 1. September die Uraufführung von "7 Deaths of Maria Callas" stattfinden. Die Operninszenierung ist von Marina Abramovic.
    In der bayerischen Staatsoper wird am 1. September die Uraufführung von "7 Deaths of Maria Callas" stattfinden. Die Operninszenierung ist von Marina Abramovic. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Anders als die Protagonistin Ihrer Operninszenierung „7 Deaths of Maria Callas“, die jetzt in München Uraufführung hat. Ist Leiden und Tod die Voraussetzung für große Kunst?

    Abramovic: In diesem Fall ist das Konzept anders. Denn es geht darum, aus Liebe und gebrochenem Herzen zu sterben. Callas starb, weil sie über den Tod ihres Geliebten Onassis nicht hinwegkam und ihre Kunst aufgegeben hatte. Ich selbst hatte zum Glück immer die Kunst, um so etwas zu überstehen.

    Denken Sie oft an den Tod?

    Abramovic: Das lässt sich nicht vermeiden. Jeden Tag. Wenn ich in die Zeitung schaue, dann sehe ich, wie die Leute ab 60 reihenweise sterben. So denke ich: Habe ich noch fünf Jahre? Zehn? 15? Meine Großmutter wurde 103, aber darauf kann ich mich nicht verlassen.

    Sind Sie besorgt?

    Abramovic: Nein, indem ich darüber nachdenke, kann ich das Leben umso mehr genießen. Ich überlege, wie ich der Endphase meines Lebens Bedeutung verleihe. Ich traf einmal eine steinalte Frau in Brasilien, die war 120 – sie war voller Vitalität. Und ich fragte sie: Was ist für Sie im Leben am wichtigsten? Und sie meinte: Wie ich das Leben betrete und wie ich hinausgehe. – Ich konzentriere mich jetzt aufs richtige Hinausgehen.

    Ihr Begräbnis haben Sie ja schon geplant: In New York, Amsterdam und Belgrad werden drei Körper begraben und einer davon ist Ihre Leiche.

    Abramovic: Dazu gibt es auch schon anwaltliche Verträge. Niemand wird wissen, wo mein echter Körper ist. Entscheidend dabei ist, dass groß gefeiert wird. Ich will schön begraben werden. Keiner darf Schwarz tragen. Niemand soll weinen, alle sollen schmutzige, politisch inkorrekte Witze erzählen. Humor ist ganz wichtig. Der geht mir in der aktuellen Zeit ganz besonders ab, so sehr ich diese Ruhe des Lockdowns genossen habe. Mit anderen Worten: Ich will den Übergang von einem Zustand in den nächsten feiern. Wie die Sufis sagen: „Das Leben ist ein Traum, und der Tod ist das Erwachen.“ Also: Lasst uns aufwachen!

    Zur Person: Marina Abramovic stammt aus Serbien und lebt heute, 73 Jahre alt, in New York. Sie wurde vielfach für ihre Arbeiten ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Löwen in Venedig, war mehrfach zur Documenta eingeladen, hatte auch verschiedene Professuren in Deutschland inne. Am 10. September startet die Dokumentation „Body of Truth“ in die Kinos, bereits am 1. September wird Abramovic’ Operninszenierung „7 Deaths of Maria Callas“ an der Bayerischen Staatsoper in München uraufgeführt.

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