An diesem Mittwoch soll Donald Trumps tumultuöse Amtszeit nach vier Jahren enden. Tatsächlich hätte er die Welt ins Chaos stürzen können. War es purer Zufall, dass er es nicht getan hat?
Georg Seeßlen: Schwer zu sagen. Eigentlich sind wir hier auf Ferndiagnosen angewiesen. Ich denke aber, dass es während der gesamten Amtszeit immer ein letztes Sicherheitsnetz gab, das uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Und mittlerweile wissen wir ja auch, dass einige seiner Mitarbeiter durchaus Bauchschmerzen hatten, aber aus einem gewissen Verantwortungsgefühl heraus trotzdem dabeiblieben. Wohlgemerkt: Das ist die idealistische Betrachtungsweise. Wenn ich zynisch wäre, könnte ich die These aufstellen, dass es offenbar in der Persönlichkeitsstruktur dieses Menschen liegt, nicht konsequent zu sein, sich immer Hintertürchen offenzulassen, einen seiner Deals später wieder zurückzunehmen. Deshalb gab es vermutlich auch keinen konkreten Plan.
Sie haben 2017 in Ihrem Buch "Trump! Populismus als Politik" aufzuzeigen versucht, welche Gefahren von dieser Präsidentschaft ausgehen können. Jeder kannte ihn damals schon hinlänglich aus den Medien, jeder wusste, wie er in bestimmten Situationen reagieren würde. Warum hat niemand etwas dagegen getan?
Seeßlen: Weil es zunächst gar niemand wollte. Man muss das kulturhistorisch betrachten. Donald Trump fiel ja nicht vom Himmel. Er ist die Spitze eines Eisbergs, der sich lange vorher bildete und dessen Auswirkungen wir inzwischen auch in Europa zu spüren bekommen. Die ungelösten Konflikte zwischen Stadt und Land, den Reichen und den Armen, einem liberal-demokratischen und einem evangelikalen, stockkonservativen Bürgertum haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten massiv vergrößert. Da ging es längst nicht mehr um Parteien, sondern darum, dass die anderen als Feinde oder gar als das personifizierte Böse betrachtet wurden. In den USA geht die Spaltung längst durch die gesamte Gesellschaft, teilweise durch Familien.
Zu seiner Popularität haben selbst die sogenannten Fake News, also die seriösen Medien, beigetragen, weil sie dankbar jede Schlagzeile aus dem Weißen Haus aufgegriffen haben, und sei sie noch so absurd und durchgeknallt.
Seeßlen: Die wechselseitige Wirkkraft der Medien kennen wir bereits aus der Pop-Geschichte. Einige Filme wie "Citizen Kane", "Robin Hood", die Cartoon-Serie "Die Simpsons" oder "House Of Cards" haben das vorher thematisiert. Donald Trump ist als Figur eine Fortsetzung dieser Erzählungen, dieser populären Märchen. Der Volksheld, der Selfmademan, der als Sugardaddy auftritt, der Unkonventionelle, der Skrupellose: Die Idee, dass so jemand tatsächlich einmal kommen würde, gibt es seit Beginn der amerikanischen Popkultur. Auf der einen Seite fürchtet man ihn, auf der anderen Seite repräsentiert er perfekt den "American Dream", bei dem einer, der nicht aus dem intellektuellen Establishment stammt, wie Phönix aus der Asche emporsteigt.
Spätestens nach dem Sturm aufs Kapitol mit fünf Toten dürften die Letzten gemerkt haben, dass der Comic mit Trump als strahlendem Helden längst blutige Realität geworden ist. Gibt es überhaupt eine Chance, Amerika wieder in normales politisches Fahrwasser zurückzuführen?
Seeßlen: Bei dieser Frage bin ich wirklich ein bisschen optimistisch. Wenn man den aktuellen Umfragen glauben darf, dann waren die Ereignisse des 6. Januar so etwas wie ein Weckruf, selbst wenn Trump nach wie vor immense Zustimmung genießt. Mit dem Sturm aufs Kapitol wurde eine rote Linie überschritten, die der Popularität Trumps sehr geschadet hat. Aber: Auch das Vertrauen in die Demokratie hat massiven Schaden genommen, weil wir schmerzlich zur Kenntnis nehmen mussten, dass sie uns nicht vor solchen Auswüchsen schützen kann. Das Bild des neuen Präsidenten Joe Biden als gütiger, strenger Vater, als seriöses, ruhiges Gegenstück zu seinem polternden Vorgänger kommt da genau zur rechten Zeit.
Warum folgen über 70 Millionen Amerikaner diesem Konglomerat aus Lügen, Realitätsverweigerung und Tricksereien? Weil die Realität nicht einmal halb so schön ist?
Seeßlen: Es ist eine Mischung aus Märchen und dem Glauben an etwas Höheres, Besseres, Wahrhaftigeres ein ganz und gar fundamentalistisch-religiöser Ansatz. Die Flucht in eine Parallelwelt, in der alles stimmt, in der es an nichts fehlt. Vielleicht auch eine letzte Bastion, bevor man komplett den Verstand verliert. Sigmund Freud würde die Gespinste Trumps als Träume analysieren, die immer wiederkehren, wie die seit dem Mittelalter bekannten Fantasien von Kinderopfern und vergiftetem Blut. Niemand weiß, ob die Trump-Anhänger davor Angst haben oder sich vielleicht gar solche Szenarien herbeiwünschen. Womit wir automatisch bei der Frage wären, die uns Deutsche bewegt: Hat das Volk sich seinen Hitler geschaffen oder hat Hitler sich sein Volk gebastelt?
Ist Trump für Sie immer noch ein Popstar – was ja per se ein positiver, durchaus progressiv besetzter Begriff ist – oder nach den jüngsten Ereignissen eher ein Rassist, ein Faschist?
Seeßlen: Beides muss sich keinesfalls widersprechen. In der Popkultur der USA gibt es schon seit langem einen extrem rechten Anteil.
Der Massenmörder Charles Manson galt ebenfalls als Popstar.
Seeßlen: Ganz genau! Sein Ruhm überdauert inzwischen seinen Tod. Es gibt Musiker, die sich nach ihm benannten, wie Marilyn Manson, die Mittäterinnen aus seiner Kommune gründeten im Gefängnis eine Art Girlgroup, deren Songs noch heute im Netz viral gehen. Der Populismus nährt sich aus der Ambivalenz solcher Figuren. Auf der einen Seite wirken sie erhaben und großartig, auf der anderen Seite identifizieren wir uns manchmal auch heimlich mit ihnen. Künstlich herstellen kann man so etwas eigentlich nicht. Einen Donald Trump als Comicfigur? Ausgeschlossen!
Hollywood greift gerne das Leben und Wirken amerikanischer Präsidenten auf. Abraham Lincoln, John F. Kennedy, Richard Nixon und George W. Bush boten bereits Stoff für Blockbuster. Würden Sie gerne einen Film über Trump sehen?
Seeßlen: Ich halte einen solchen Film sogar für wahnsinnig wichtig, weil die Trump-Periode eine tiefe Narbe in der demokratischen Zivilgesellschaft hinterlassen hat. Allerdings bitte nicht als Satire oder Serie. Es müsste etwas ganz Großes, etwas Panoramatisches werden, das viele Aspekte berücksichtigt, bis weit in seine Familiengeschichte und die medialen Vernetzungen hinein. Wir müssen Bilder und Geschichten dazu finden, um zu erfahren, was da mit uns passiert ist.
Zur Person: Georg Seeßlen, geboren 1948 in München, ist Kulturwissenschaftler und schreibt als Kritiker und Autor für diverse Zeitungen und Magazine. 2017 erschien sein Buch "Trump! Populismus als Politik". Seeßlen lebt in Kaufbeuren und Ligurien.
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