Frau Süssmuth, die neue Dokumentation „Die Unbeugsamen“ zeigt auch Ihre jahrzehntelangen Bemühungen um die Geschlechtergleichstellung im politischen Sektor. Doch es gibt ja immer noch viele Defizite. Wie können diese endlich beseitigt werden?
Rita Süssmuth: Die erste kurze Antwort ist: nicht aufgeben. Ich werde oft gefragt: „Warum sprechen Sie vom Kämpfen?“ Dann sage ich: „Weil dieses Ziel nur durch ein unerbittliches Durchhalten zu erreichen ist.“ Wir dürfen nicht schweigen. Aber es geht nicht darum, einen Kampf gegen die Männer zu führen. Und es hat auch keinen Zweck, ständig das Klagelied der Benachteiligung vorzubringen. Ja, die gibt es, aber die Strategie muss auf das Gemeinsame ausgerichtet sein. Es hilft nicht, die ein und dieselbe Platte endlos zu spielen. Wir müssen endlich erkennen, dass wir in den aktuellen Umbruchsituationen eine gemeinsame Aufgabe haben. Die Männer haben es allein nie geschafft. Es muss unser Ziel sein, den Geschlechterkampf in ein produktives Verhältnis zwischen allen Beteiligten umzuwandeln. Der Frauenanteil im Deutschen Bundestag ist gegenüber der letzten Legislaturperiode erneut gesunken. Und noch bedrückender ist die Situation in den kommunalen Parlamenten. Da sieht es mit den zehn Prozent Beteiligung so aus, als seien die Frauen fast verschwunden.
Ex-Bundestagpräsidentin: "Wir warten, bis es zu spät ist"
Wie hätte man das verhindern können?
Süssmuth: Ich würde nicht noch einmal die Frauenquote in diesen kleinen Häppchen vertreten. Es wurde immer gesagt, man müsse schrittweise vorgehen. Selbst Angela Merkel ist von einem langen Prozess ausgegangen. Aber es ist wichtig, in diesem Prozess auch immer wieder Zielmarken zu haben: Was wollen wir bis wann erreicht haben? Von 1949 bis 1987 haben wir im Bundestag die Zehn-Prozent-Marke nie erreicht. Ohne die wichtigen Denkanstöße der 68er wäre gar nichts in Gang gekommen. Und erst nach 1987, vorangetrieben durch die Frauenbewegung und die friedliche Revolution in der DDR, hat sich dieser Anteil erhöht. Aber schauen Sie sich den heutigen Stand an: Im Bundestag sind es 31 Prozent, in meiner eigenen Partei sind es 26 Prozent, in CSU und FDP 21 Prozent. Wer da meint, wir können noch länger warten und es wird schon kommen, dem sage ich: Wir warten, bis es zu spät ist.
Und was treibt den Prozess der Gleichstellung voran?
Süssmuth: Mitentscheidend waren die Reformbewegungen in der Bildungspolitik und die Beteiligung der Frauen in der Wirtschaft. Als ich Ministerin wurde, waren 35 Prozent der Frauen erwerbstätig, heute sind es 73 Prozent, wenngleich wir noch einen Riesenanteil an Teilzeitarbeit haben. Die Bildungspolitik wiederum, auch wenn ich sie nicht insgesamt verteidige, hat die Frauen sehr erstarken lassen, obwohl wir immer wieder Rückfälle in alte Rollenmuster erleben. Man traut den Frauen nichts zu. Selbst bei Merkel hieß es: „Das Mädchen kann es nicht.“ Dieser Verdacht ist durch sie selbst entscheidend widerlegt.
Rita Süssmuth: "Wir brauchen jetzt dringend eine Wahlrechtsreform"
Was ist jetzt für diese Reformbewegungen nötig?
Süssmuth: Wir brauchen jetzt dringend eine Wahlrechtsreform, und diese muss begleitet werden von innovativen Prozessen. Parität heißt gleicher Anteil von Frauen und Männern, das bedeutet gleiche Verantwortung, gleiche Verpflichtung, gleiche Bewertung der männlichen und weiblichen Arbeit. Dann gibt es auch mehr Veränderungen von Equal Pay bis zur höchsten Führungsposition.
Allerdings wurde die Wahlrechtsreform nicht in dieser Legislaturperiode durchgesetzt.
Süssmuth: In der Tat, das ist schon wieder auf die nächste verschoben. Ob sie dann kommt, ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Nach dem aktuellen Reformentwurf soll die Parität 2025 hergestellt sein. Wobei ich mich frage: Warum erst 2025? Ich bin gespannt, wie das nächste Parlament aussieht, denn wir kommen um Veränderungen nicht herum. Aber bei Veränderungen in bestimmten Fragen der Politik bewegen wir uns mit der Schnelligkeit einer Schnecke, denn nichts hält sich länger als alte Machtverhältnisse. Einige sind nur durch Revolutionen gestürzt worden. Zum Glück sind wir heute in der Lage, das wie andere Staaten friedlich zu machen – mit überzeugenden Argumenten und dem Potenzial, das in den Menschen liegt.
Im Sommer 2020 erschien Ihr Buch „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen – Briefe an die Enkel.“ Setzen Sie also auf die junge Generation?
Süssmuth: Ja, sehr. Die junge Generation ist für mich zurzeit eine der wichtigsten Antriebskräfte. Dass sie dann überschlägig und überspitzt wird, das gehört zu neuen Bewegungen. Deshalb verdient sie auch eine kritische Auseinandersetzung. Aber was die Beachtung des Klimawandels angeht, so hat sie mit ihrer Unerschrockenheit Erhebliches geleistet. Da ist gesagt worden: „Ihr gehört am Freitag in die Schule.“ Aber man könnte auch überlegen, dass für wichtige Angelegenheiten Treffen außerhalb der Schule veranstaltet werden sollen, wo sich junge Menschen austauschen, was sie ändern möchten. Das sollte kein Kampf der Generationen werden, sondern es geht um das gegenseitige Verstehen: Wie vermitteln sich die Jüngeren an die Älteren und umgekehrt? Und zum Glück gibt es auch Organisationen, die dazu ihren notwendigen Beitrag leisten.
Für die Enkelgeneration ist ja, wie Sie sagten, der Klimawandel das zentrale Thema. Und für Sie?
Süssmuth: Das ist ein entscheidendes Thema, aber die zentrale Frage für mich ist, wie wir die gefährliche Spaltung zwischen Wohlhabenden und Armen verringern. Da wollen wir nicht richtig heran, aber da müssen wir heran, denn wir sehen ja, zu welchen gesellschaftlichen Entwicklungen das in den Ländern führt, wo diese Spaltung noch viel stärker ausgeprägt ist. Und ich erlebe viele Vertreter der jungen Generation, die nicht mehr fragen: „Wie kann ich schnell studieren und möglichst schnell Karriere machen?“ Sondern: „Was können wir miteinander verändern?“ Dafür werden sie angegriffen, das müssen sie sich auch gefallen lassen. Denn wer etwas verändern will, muss kämpfen. Man muss die Widerstände zur Kenntnis nehmen und neue Ideen entwickeln, wie wir sie überwinden können.
"Angela Merkel hat alte Verkleisterungen aufgehoben"
Doch für all diese Änderungen braucht es, wie Sie ja umrissen haben, ein paritätisches Zusammenwirken von Politikerinnen und Politikern. Warum hat es eigentlich unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel keine größeren Fortschritte gegeben?
Süssmuth: Angela Merkel kommt aus einem anderen System. Ein System, das sich in Teilen anders entwickelt hat als bei uns. Berufstätigkeit und Studium von Frauen war nicht zu erkämpfen, das wurde nach dem Krieg im System verankert. Von daher hat sie einen anderen Weg vollzogen als diejenigen bei uns, die die Lösung im Feminismus gesehen haben. Doch selbst wenn sie solche Prozesse nicht genug vorangetrieben hat, so hat sie doch dafür gesorgt, dass alte Verkleisterungen in der Bundesrepublik aufgehoben wurden.
Welche fallen Ihnen da ein?
Süssmuth: Als sie begann, war beispielsweise die Frage der Quote nur ein Nebenthema. Die Frage der Parität ist für sie heute keine Grundsatzfrage mehr. Die brauchen wir einfach, das sagt sie auch. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an ihre Aussagen zur Homosexualität im Interview mit der "Brigitte". Aber die Umsetzung steht mit der Partei eben noch aus. In ihren Äußerungen, mündlich wie schriftlich, ging Angela Merkel weiter als in der Umsetzung. Und es ist die Umsetzung der gleichen Beteiligung von Männern und Frauen, die das Hauptproblem ist. Noch bis 1977 durften westdeutsche Frauen nur mit Einwilligung ihres Mannes berufstätig sein, solange sie ihre Pflichten in Ehe und Familie erfüllten. Aber für diese langen Umsetzungszeiten haben wir heute keine Zeit mehr, weil unser Planet und seine Menschen in Gefahr sind. Das ist für mich der Hauptausgangspunkt: Mensch, hört auf mit alten Querelen und Benachteiligungen! Sagt lieber, was jetzt zu tun ist und woran wir gemeinsam arbeiten.
Hätten Sie eigentlich selbst Kanzlerin sein wollen, um all diese Veränderungen zu befördern? Diese Frage wird ja einigen Interviewten der Dokumentation gestellt.
Süssmuth: Das war nicht in meiner Vorstellungswelt. Die Kanzlertätigkeit war nicht etwas, was mich primär bewegte, mir ging es vielmehr um die gesellschaftliche Wende. Und ich verstand dies für mich so: Wie schaffen wir es in Menschen eine Haltung aufzubauen, die uns voranbringt? Und bevor ich zusagte, das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zu übernehmen, habe ich zunächst gründlich überlegt, ob ich das überhaupt kann.
Rita Süssmuth: Erfahrung mit sterbenden Menschen war prägend
Und dann kam auf Sie mit Aids eine Herausforderung zu, für die es keine Vorbereitung geben konnte.
Süssmuth: Das war für mich eine ganz wichtige Bewährungsprobe. Ich dachte erst: Um Gottes willen, werde ich das können? Und da muss ich sagen, das habe ich nicht alleine geschafft. Ich habe jeden Tag gelernt, und zwar nicht nur gelernt von den Ministerialmitarbeitern, sondern Vertretern der Zivilgesellschaft, Priestern, Gewerkschaftlern und Gewerkschaftlerinnen, auch Künstlern und Künstlerinnen wie die Bläck Fööss, die mit ihren Liedern gegen die Spaltung in Gut und Böse angesungen haben. Prägend waren auch die Begegnungen mit Menschen, die dem Tod geweiht waren. Ich habe gemerkt, welche Kraft sie entwickelt haben, wenn sie von uns Zuwendung und Zugehörigkeit erfuhren.
Sie hatten damals auch wortstarke männliche Widersacher, insbesondere den bayerischen Staatssekretär Peter Gauweiler.
Süssmuth: Es wurde damals die Position vertreten, man müsse HIV-Infizierte einer Kontrollpflicht unterziehen. Ich habe Gauweiler damals gefragt: „Wie oft wollen Sie innerhalb einer Woche den Sexualverkehr kontrollieren? Das können Sie nicht. Wir müssen andere Mittel einsetzen.“ Und das ist etwas, was grundsätzlich gilt, auch in der Gleichberechtigungsfrage: Wir brauchen neue Strategien und nicht die alten Muster, die sich abgenutzt haben. Aber die Tendenz, Infizierte total auszugrenzen, wenn nicht auf eine Insel zu verschiffen, die war seinerzeit so stark. Sie wurde als das Hauptmittel gesehen, um sich selbst zu schützen, auch wenn das gar keinen Schutz gebracht hat. Wir hatten vor Aids keine intensive Forschung in diesem Bereich. Diese hat sich inzwischen massiv erhöht, wir brauchen sie für die Menschen, nicht gegen sie.
Denken Sie denn insgesamt, dass die Menschen imstande sind, für all die gesellschaftlichen Probleme positive Lösungen und Antworten zu finden?
Süssmuth: Sie haben jedenfalls das Potenzial. Das ist meine Grundüberzeugung. Es ist ganz viel Potenzial da, das entweder nicht zur Sprache kommt oder nicht entwickelt wird. Wir müssen den Menschen die Erfahrung ermöglichen: „Auch ich habe eine Chance, ich bin nicht ausgegrenzt.“ Deshalb höre ich nicht auf, für die Dinge zu kämpfen, für die ich angetreten bin.
Zur Person: Rita Süssmuth, 84, war Professorin für Erziehungswissenschaft und ist fünffache Großmutter. Als CDU-Politikerin war die gebürtige Wuppertalerin Bundesfamilienministerin und Bundestagspräsidentin.