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Interview: Chef des bayerischen Chorverbands: "Wir fühlen uns ungerecht behandelt"

Interview

Chef des bayerischen Chorverbands: "Wir fühlen uns ungerecht behandelt"

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    Laienchöre – wie hier der Liederkranz Mering – dürfen immer noch nicht zusammen proben.
    Laienchöre – wie hier der Liederkranz Mering – dürfen immer noch nicht zusammen proben. Foto: Heike John

    Herr Schwarz, wie geht es Ihren 90.000 bayerischen Chor-Kolleginnen und -Kollegen in diesen Wochen? Wollen Sie wieder singen?

    Jürgen Schwarz: Persönlich will ich so bald wie möglich wieder im Chor und Ensemble singen. Und das dürfte auch für alle anderen Sängerinnen und Sänger gelten. Wer das Klangerlebnis der eigenen Stimme in einer Chorgemeinschaft erleben durfte, wird diese Bereicherung ein Leben lang nicht mehr missen wollen.

    Nun hat die Bayerische Staatsregierung das Singen weiterhin verboten – während Orchester und Blaskapellen unter Einhaltung der Hygienevorschriften wieder Musik machen dürfen. Fühlen sich die Sängerinnen und Sänger ungerecht behandelt?

    Schwarz: Selbstverständlich betrachten auch wir die Auswirkungen der Corona-Pandemie sehr aufmerksam. Aber ja, wir fühlen uns ungerecht behandelt. Nicht mit einem neidischen Fingerzeig auf andere Gruppierungen, sondern weil mit uns, einer mit 90.000 Aktiven gesellschaftlich relevanten Gruppe, trotz mehrfachen Andeutungen bisher nicht gesprochen wurde und wir nicht in die Diskussion für einen geordneten und vorsichtigen Wiedereinstieg in unsere kulturellen Aktivitäten einbezogen wurden.

    Was erwarten Sie konkret von der Staatsregierung?

    Schwarz: Die vier bayerischen Chorverbände fordern, dass sie als gewählte Vertreter der Chorinteressen an den Gesprächen konstruktiv beteiligt werden, bevor in einer völlig unverständlichen Vorgehensweise das gesamte Chorwesen mit einem perspektivlosen Betätigungsverbot belegt wird. Und das mit einem lapidaren Zweizeiler am Ende einer Vollzugsanordnung des Gesundheitsministeriums.

    Das bayerische Gesundheitsministerium verbietet das Singen, weil es „laut“ sei. Verstehen Sie das?

    Schwarz: Ich kann dies als Begründung überhaupt nicht akzeptieren. So einfach kann und darf man sich das nicht machen. Denn es geht auch um die Existenz eines mit riesigem ehrenamtlichen Engagement aufgebauten Netzwerkes, das von der intensiven Nachwuchsausbildung über die kontinuierliche Probenarbeit bis zu anspruchsvollen und finanziell umfangreichen Konzertprojekten mit großem persönlichen Einsatz reicht. Und das passiert ja nicht nur zur eigenen Freude, sondern ist ein unverzichtbarer Beitrag zum kulturellen Reichtum und ein – gerade in schwierigen Zeiten – wichtiger Bestandteil für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Lautstärke des Gesangs ist da nur ein sehr kleiner Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion.

    Aber schwirren beim Singen nicht besonders viele Tröpfchen und Aerosole durch die Luft?

    Schwarz: Unabhängig voneinander haben Wissenschaftler der Bundeswehr-Uni in München und des Freiburger Instituts für Musikermedizin herausgefunden, dass Tröpfchen schnell auf den Boden fallen und in einem Radius von anderthalb, maximal zwei Metern niemanden mehr erreichen. Man reduziert das Risiko, wenn man genügend Abstand zwischen den Sängern hält. Die Wissenschaftler sprechen von zwei Metern. Die Aerosole dagegen sind so leicht, dass sie in der Raumluft schweben. Mit der Abstandsregel allein sind sie nicht zu kontrollieren.

    Erscheint es angesichts dieser Unsicherheit nicht sinnvoll, wenn die Politiker schärfere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen als zu lasche?

    Schwarz: Natürlich kann man es sich einfach machen und als Vorsichtsmaßnahme alles verbieten. Aber eine einseitige Verschärfung der Vorsichtsmaßnahmen, die ein generelles Betätigungsverbot für Chöre rechtfertigen, ist aus vorliegenden Untersuchungsergebnissen nicht herzuleiten. Weil die Messung von Aerosolen schwierig ist und noch keine belastbaren wissenschaftlichen Ergebnisse vorliegen, empfehlen die Wissenschaftler übereinstimmend, dem Infektionsrisiko zu begegnen, indem man die Sängerzahl in Bezug auf Raumgrößen und Raumhöhen begrenzt und für regelmäßigen Luftaustausch sorgt. Eine Kontaktinfektion ist durch Desinfektionsmaßnahmen deutlich begrenzbar. Weil die Chorverbände nicht an den Gesprächen zur Entwicklung geeigneter Maßnahmen im Vorfeld beteiligt wurden, haben wir den Ministern zusammen mit einem Protestschreiben auch ein Hygienekonzept gesandt, das auf den Grundlagen der Studien und Risikobewertungen einen Chorbetrieb mit vertretbarem Risiko wieder ermöglichen soll.

    Nach manchen Gottesdiensten, in denen gesungen wurde, wurde ein starker Anstieg von Infizierten registriert. Und bei einem Chor in den USA erkrankten nach einer Probe 53 von 61 Sängern; zwei Sänger starben sogar. Ist es in der Praxis nicht doch schwierig, Infektionen zu vermeiden?

    Schwarz: Kein Zweifel: Jede Erkrankung und jeder Todesfall ist einer zu viel! Da wir uns aber in einer gesellschaftlichen Diskussion mit großer Tragweite für alle Lebensbereiche befinden, sollten wir unbedingt darauf schauen, wann mit welchem Kenntnisstand unter welchen Rahmenbedingungen die Vorkommnisse stattgefunden haben. Leider ist dazu außer den Schlagzeilen wenig wissenschaftlich Verwertbares verfügbar. Wichtig wäre jedoch, die Erkenntnisse in eine Vermeidungsstrategie einfließen zu lassen.

    Bei unseren Nachbarn in Baden-Württemberg ist das gemeinsame Singen unter Auflagen wieder erlaubt. Warum handelt die Bayerische Staatsregierung so restriktiv?

    Schwarz: Nicht nur in Baden-Württemberg, auch in Hessen, in Rheinland-Pfalz und in unserem Nachbarland Österreich darf unter Hygieneschutz-Auflagen wieder gesungen werden. Dort konnten offensichtlich gemeinsame Konzepte zwischen Verbänden und Gesundheitsbehörden vereinbart werden. Und – ganz wichtig: Jeder Chorsänger kann und muss selbst entscheiden, ob für ihn das unvermeidbare Restrisiko akzeptabel ist. Denn eine hundertprozentige Sicherheit wird es auf absehbare Zeit nicht geben.

    Den Bläsern empfiehlt die Staatsregierung Proben im Freien, weil dort die Ansteckungsgefahr geringer sei. Wäre das auch für Chöre ein gutes Rezept?

    Schwarz: Im Freien zu proben ist sicher in Einzelfällen bei guter Sommerwetterlage und geeigneten Plätzen möglich. Das ist in den ländlichen Regionen vielleicht machbar, aber in Städten wird das schwierig.

    Zur Person: Jürgen Schwarz ist geschäftsführender Präsident des Chorverbands Bayerisch-Schwaben, dem 670 Chöre mit 19 220 Sängern angehören. Der 58-Jährige singt im Carl-Orff-Chor Marktoberdorf mit und leitet das Ensemble „Animato“.

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