Bill Gates steckt hinter Corona, geheime Kräfte wollen mit Hilfe von Covid 19 eine neue Weltmacht schaffen – es gibt viele abstrus klingende Theorien, die derzeit im Umlauf sind und es gibt eine große Anzahl Menschen, die sie glauben. Herr Soentgen, halten sie diese Menschen für verrückt?
Jens Soentgen: Nein. Ich glaube, dass das differenzierter zu betrachten ist. Das sind extreme Positionen, die Erkenntnisse der Wissenschaft in Frage stellen und Wissenschaftler verleumden. Man muss sie unterscheiden von Kritikern, die einzelne Maßnahmen gegen die Pandemie in den Fokus nehmen. Die etwa deren Verhältnismäßigkeit hinterfragen. Das sind aber nicht gleich Verschwörungstheoretiker. Die Verschwörungstheoretiker verbreiten eine grundlegende Wissenschaftskritik, die wir in einen größeren Kontext stellen müssen.
Welchen Kontext sehen sie?
Soentgen: Das, was wir jetzt erleben in seinen extremen Spitzen, das kennen wir auch schon aus anderen Wissenschaftsdebatten. Ähnliche Beobachtungen haben meine Kollegin Prof. Helena Bilandzic und ich bereits bei den Diskussionen um den Klimawandel gemacht. Im Rahmen eines Forschungsprojektes haben wir skeptische Veröffentlichungen zu diesem Thema gesammelt und ausgewertet. Wenn man jetzt auf die öffentliche Diskussion über die Corona-Pandemie schaut, kann man ähnliche Mechanismen erkennen. Die Wissenschaft muss sich damit ernsthaf tauseinandersetzen.
Wie müsste diese Auseinandersetzung aussehen?
Soentgen: Es hilft nicht, wenn wir diese Menschen pauschal als vormoderne Aluhütchenträger abqualifizieren. Sinnvoller ist es, zu fragen, was die Wissenschaft besser machen muss.
Diese Theorien sind also nicht immer Unsinn?
Soentgen: Eines ist Unsinn: Wenn man der Wissenschaft pauschal unterstellt, hier würden sich Leute verschwören, um mit Hilfe korrupter Politiker, die die Bürgerrechte einschränken, eine Diktatur zu errichten. Das ist nicht diskussionswürdig, mit diesen Leuten kann man auch nicht ins Gespräch kommen. Aber wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, in der die Bürger den Mund aufmachen dürfen und es auch müssen, selbst wenn sie nicht über Fachwissen verfügen. Dafür müssen wir uns rüsten. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir dafür schon gut aufgestellt sind.
Was fehlt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, um sich der Kritik zu stellen?
Soentgen: Wir sind sehr stark in Spezialisierungen abgedriftet. Virologen kennen sich unwahrscheinlich gut aus in den Mechanismen der Genetik und in der Interaktion von Virus und Zelle und oft auch in der Epidemiologie. Aber wenige beschäftigen sich mit derselben Intensität mit der Frage, welche sozialen Nebenwirkungen die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus auch haben. Im Klimadiskurs können die Wissenschaftler wunderbar Modelle rechnen und wissen, wenn wir global CO2 senken, dann geht es auch mit der Temperatur herunter. Aber wer hat auch die allgemeine Sicht auf die weiteren sozialen und ökologischen Konsequenzen? Dieser Blick aufs Ganze wird in der Wissenschaft nicht mehr kultiviert. Dafür braucht es Institutionen und auch Persönlichkeiten, die über den Tellerrand blicken, die Weitblick und Urteilsvermögen haben. Nur wenn wir uns interdisziplinär aufstellen und wieder lernen, aufs Ganze zu schauen, können wir in einen Dialog mit den Kritikern kommen.
Wie funktionieren Verschwörungstheorien ? Gibt es bestimmte Voraussetzungen, sozusagen ein Regelwerk?
Soentgen: Ja, da gibt es bestimmte Bauelemente, die ein Augsburger Kollege, der Theologe Thomas Hausmanninger schon vor einigen Jahren herausgearbeitet hat. Die kann man auch schön in Romanen wiederfinden, denken sie nur an den Thriller „Illuminati“ von Dan Brown. Im Grunde funktioniert die Verschwörungstheorie wie ein Kriminalroman. Man liest Indizien und ordnet sie dann in einen Zusammenhang ein, oft in eine Weltverschwörung. Und es ist immer fünf vor zwölf, man hat also nur noch ganz wenig Zeit, um den Leuten das Handwerk zu legen. Aus der Sicht des Verschwörungstheoretikers ist es eine ganz kleine Gruppe von Menschen, denen es um Geld und um Macht geht und die eine unglaubliche Kontrolle haben, um die Geschicke zu lenken. Derzeit stellen wir fest, dass Wissenschaftler als solch ein Zirkel angesehen werden. Befördert wird diese Sicht sicherlich von der starken Ökonomisierung der Wissenschaften in den vergangenen 30 Jahren.
Wenn Sie schon den Kriminalroman erwähnen: Sind Verschwörungstheorien nicht auch der Versuch, unserer durchtechnisierten, an Fakten und Zahlen orientierten Welt ein erzählendes Moment zu geben?
Soentgen: Völlig richtig. Das ist der Kern. Es gibt ja eine spürbare Entwurzelung dieser High-Tech-Wissenschaft, durch die den Menschen abhanden gekommen ist, worum es eigentlich geht. Und dann kommt jemand und erzählt einfach.
Und dafür sind wir empfänglich.
Soentgen: Ja, als soziale Wesen sind wir darauf geeicht. Wenn wir in einen Raum kommen, in dem nur ein Stuhl steht, achten wir nicht darauf. Wenn aber in dem Raum jemand sitzt, ist unsere Aufmerksamkeit sofort von diesem einen Jemand gefesselt, weil es nämlich ein Subjekt ist. Wir suchen überall nach Menschen, nach dem Sozialen. In diesen abstrus klingenden Theorien wird es uns angeboten. Jeder von uns liest das ja auch gern, wie all die Bestseller beweisen.
Darin liegt also die Überzeugungskraft, die Verschwörungstheorien haben?
Soentgen: In diesem Narrativ wird alles aus Handlungen erklärt, nicht aus Korrelationen und Messungen. Wenige Leute machen etwas, diese wenigen Leute haben noch weniger Motive, nämlich Macht und Geld. Schwierige Zusammenhänge werden durch eine Erzählung ersetzt, die sagt, wer schuld ist. Das versteht man sofort, vor allem aber nimmt es einen emotional mit, empört einen und man will dem etwas entgegensetzen. Man wird vom Ermahnten zum Mahner, Warner und ‚Aufklärer’. Man übernimmt also eine neue soziale Rolle. Es ist diese Emotionalisierung, die mit einer Erzählung transportiert wird. Das ist etwas anderes als bei einer Theorie.
Diese Emotionalisierung erleben wir im Moment ja sehr stark auch bei den Corona-Demonstrationen. Welche Folgen haben Verschwörungstheorien für Demokratie und Gesellschaft?
Soentgen: Sie sind ein Kommunikationsabbruch. Leute, die daran glauben, erreichen wir nicht mehr. Deswegen muss man davor anfangen, und da kann die Wissenschaft eine essenzielle Rolle übernehmen. Aber diese Kommunikation darf keinesfalls belehrend sein, sondern sie muss interaktiv sein. Aus dieser Wissenschaftskritik kann man ja auch lernen.
Wie ist das zu verstehen?
Soentgen: Wissenschaft lebt von Kritik. Sie ist ein Motor, der zu neuen Erkenntnissen antreibt. Das muss nicht nur die Kritik der Fachkollegen sein. Kritik von außen kann etwa unsere begrifflichen Beschränkungen offen legen. Wenn uns in der Klimadebatte jemand entgegen hält: „Für mich ist Umwelt Landschaft. Wenn da jetzt lauter Windräder rumstehen, dann ist das für mich kein Umweltschutz mehr.“ Dann müssten wir vielleicht erkennen, dass wir das Umweltthema eingeengt haben, indem wir Umwelt und Klima zu sehr gleichgesetzt haben. Kritik an der Wissenschaft muss also sein. Doch die pauschale Verleumdung ist ist eine Gefahr für die Wissenschaft und die Gesellschaft. Das haben wir in der Klimadebatte gesehen. Durch Corona ist es jetzt noch einmal zugespitzt worden. Wir müssen uns damit auseinandersetzen.
Sehen Sie dafür Offenheit bei Ihren Kollegen?
Soentgen: Teilweise ist zwischen Geisteswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern keine Kommunikation mehr möglich, weil die Gräben so tief sind. Wenn wir Wissenschaftskommunikation betreiben wollen, dann brauchen wir neue Initiativen und wir brauchen mehr Forscherinnen und Forscher, die Natur- und Geisteswissenschaften vereinen, die nicht nur immer weiter zerlegen, sondern auch verbinden können, die einen Überblick haben und diesen für andere schaffen können.
Zur Person: Jens Soentgen, geboren 1967, studierte Chemie und promovierte in Philosophie. Seit 2002 ist er Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt an der Universität Augsburg.
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