Sie sind ja ein ausgebildeter Holzbildhauer. Tun Sie das noch, zumindest hin und wieder?
Christian Stückl: Nein, gar nicht mehr. Es war ja so, dass ich als Jugendlicher verschiedene Berufswünsche hatte – abgesehen davon, dass mein Großvater und mein Vater wollten, dass ich unseren Oberammergauer Gasthof übernehme. Mit 15 wollte ich Pfarrer werden – ein den Ritus inszenierender Pfarrer. Und mit 16 wollte ich unbedingt zum Theater, um Passionsspielleiter in Oberammergau zu werden, und da dachte ich mir, dass der Holzbildhauer der richtige Weg dorthin sei. Aber dann merkte ich: Das ist nicht meins. Den ganzen Tag allein im Atelier! Das kann ich nicht.
Was tun Sie, wenn Sie am Münchner Volkstheater oder in Oberammergau nicht verwalten, organisieren, besetzen, inszenieren?
Stückl: Ich habe ja seit Jahren viel zu tun – und seit zwei Jahren betreue ich zusätzlich einen Flüchtling, einen jungen Mann aus Afghanistan, der mir zugelaufen ist. Ich lernte ihn kennen, als er in Oberammergau bei den „Nabucco“-Proben plötzlich im Zuschauerraum saß. Ich fragte ihn natürlich: „Was machst du hier?“ Und er sagte unter Fingerzeig auf die Bühne immer nur: „Schön!“ Er wohnt jetzt bei meinen Eltern und macht eine Ausbildung. Aber wenn mir alles zu eng und zu viel wird, buche ich einen Flug nach Indien, wo ich einen ziemlich guten indischen Freundeskreis von Theatermenschen habe, nachdem ich 1994 in Mysore die Produktion „Ein indischer Sommernachtstraum“ herausbrachte. Schon bei den Vorbesprechungen zu dieser Produktion ahnte ich damals: Das ist mein Land. Eine ganz andere Welt und Sicht. Und so schaust du auch anders auf diese Welt mit Hindus, Moslems und einem anderen Frauenbild.
Woher rührt Ihr Feuer zum Theater? Wie viel innere Bestimmung ist dafür verantwortlich?
Stückl: Das ist ein ganz schwieriger Punkt. Ich bin ja in einer Passionsspielfamilie aufgewachsen; mein Großvater war schon Kaiphas und mein Vater auch. Wie ein Erbbauernhof. Und als Ministrant habe ich dem Pfarrer schon erklärt, wie Liturgie richtig geht, und in der Küche unserer Gastwirtschaft habe ich immer erzählt, wie sich die Gäste an den Tischen verhalten. Einmal berichtete ich, dass da ein Tisch sei, an dem – Wahnsinn – die Gäste seit einer Stunde nichts miteinander sprechen. Und als Bub wurde ich auch „Theaterschreck“ gerufen, weil ich immer im Theater war und auf der Bühne stand und schaute und mitspielen wollte. Wenn man mich zur einen Tür hinauswarf, kam ich bei der nächsten wieder rein. Einmal hab’ ich deswegen eine Schellen gefangen und da hab’ ich mir geschworen: Wenn du selbst Spielleiter bist, dann haust d’ z’ruck.
Noch mal: Wie viel innere Bestimmung ist dafür verantwortlich?
Stückl: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich kann’s nicht beschreiben, warum ich als Kind schon immer dachte, ich müsse Geschichten erzählen. Aber ich weiß, ich wollte die Dinge immer anders beschreiben, umdrehen.
Sie leben gewissermaßen in zwei Welten, im überschaubaren Oberammergau, wohin Sie zumindest derzeit jeden Abend heimkehren, und im schwer zu durchdringenden München. Wie würden Sie die beiden Welten beschreiben?
Stückl: Mit 16, 17 Jahren wollte ich raus aus Oberammergau, weil ich es nicht mehr aushielt im Dorf. Im Zivildienst war ich dann in der Stadt – und sagte zu jedem, den ich auf der Straße traf: „Grüß Gott“ – so, dass die Menschen mich schon für verrückt hielten. In München lebte ich in einem Haus, wo keiner keinen kannte. Und da stellte ich auch fest: Ich kriege ja hier gar nicht mehr die Jahreszeiten mit. Und die Gerüche vom Land gingen mir ab. Außerdem merkte ich: Die Stadt hat viel mehr gesellschaftliche Grenzen, man trifft viel weniger auf tatsächlich andere Menschen und Nationalitäten. In der Stadt musst du dich selbst entscheiden, wo du dazugehören willst. Das Land hat andere Strukturen, hier bist du immer unter allen, unter allem. Reich und Arm mischen sich. Auch wenn dir Leute auf den Keks gehen, sie kennen dich, sie stehen neben dir. Ich mag das Land lieber.
Theater muss laut Stückl politisch sein und kritisieren
Zum vierten Mal werden Sie 2020 die Passionsspiele in Oberammergau leiten und immer gab es unter Ihnen mehr oder weniger große Reformen. Können Sie die Geschichte der Reformen kurz skizzieren?
Stückl: Es war ein langer, durchgehender Prozess. Nach den scharfen dörflichen Auseinandersetzungen in den 70er Jahren über die Zukunft des Passionsspiels war meine Generation die erste, die 1990 auch auf den Forderungskatalog zweier jüdischer US-Organisationen einging und zunächst vor allem Antisemitisches aus dem Spiel hinausbrachte. Dann empfand ich es als schwierig, nur die Passionsgeschichte Jesu zu erzählen, also seine letzten Tage – ohne zu zeigen, warum er gekreuzigt wurde. Ich wollte viel mehr über das Leben von Jesus und über seine Forderungen an die Menschen erzählen. So wurde auch das Johannesevangelium durch das Matthäusevangelium verdrängt, wo viel stärker der soziale, politische Jesus dargestellt ist. 2020 will ich einige Hauptfiguren noch besser belichten – etwa Nikodemus und Josef von Arimathäa. Unabhängig davon stellt sich ja auch immer wieder die Frage: Wie gehe ich heute ästhetisch mit dem Passionsspiel um, also mit Bühnenbild, Kostümen, Musik?
Würden Sie nach heutigem Stand – angenommen, man bittet Sie – auch die Passionsspiele 2030 wieder übernehmen?
Stückl: Ich fände es spannend, wenn jemand käme – zum Beispiel a Maderl, das Regie studiert, oder Abdullah Karaca, der zweite Spielleiter 2020 – und sagt: Ich würde gerne übernehmen. Da wart’ ich drauf. Aber wenn man mich fragen würde, würde ich es wohl auch wieder machen.
Wenn man die Vergangenheit Revue passieren lässt, dann sieht es so aus, als ob Sie mit Shakespeare Ihre größten Erfolge feierten.
Stückl: Ich empfinde es nicht so. Mir sind andere Sachen viel wichtiger. Aber Shakespeare hat in seinen Stücken eine viel breitere Welt geschaffen. Heute bleiben wir im Privaten hängen, in der Wohnküche, im Kleinen.
Zurzeit inszenieren Sie an „Ihrem“ Münchner Volkstheater Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ (Premiere: 30. November). Argumentieren Sie mal, warum man sich das Stück und Ihre Inszenierung anschauen sollte.
Stückl: Für die Regie werde ich nicht argumentieren. Aber ich liebe, wie Horváth die Menschen beobachtet und in Abgründe schaut. Ich mach’ ja Theater für die Leit. Horváth zeichnet ein Mädel, das fast chancenlos ist, die von allen beobachtet und bewertet wird. Die kommt aus ihrem Umfeld, von dem sie gemacht wird, gar nicht mehr heraus. Erst zum Schluss befreit sie sich.
Warum hat das Theater politisch zu sein?
Stückl: Wenn ich Horváth bringe, erzähle ich vom Menschen – und dann werde ich praktisch automatisch politisch. Das Theater ist kein Neutralitätsort, wie die CSU fordert. Auch wenn wir subventioniert werden: Unsere Kritik muss ausgehalten werden. Man wünscht sich ja viel öfter das richtige Stück zum richtigen Moment. Mit dem „Nathan“ 2015 gelang mir das.
Am Münchner Volkstheater wird sehr viel literarisches Theater gespielt, an den Münchner Kammerspielen nicht mehr. Haben Sie diesbezüglich eine Publikumsumschichtung festgestellt? Gibt es in Ihrem Haus mehr Andrang?
Stückl: Als ich das Volkstheater 2002 übernahm, war mein Ansatz, ein eigenes junges Publikum zu finden. Heute sind wir in München tatsächlich das Theater mit dem jüngsten Publikum. Und es ist treu, genauso wie das Publikum an den Kammerspielen, das leidet und trotzdem dortbleibt. 2015 kamen wegen des „Nathan“ Zuschauer der Kammerspiele und des Residenztheaters zu uns, aber im Großen und Ganzen hat es keine Umstrukturierungen gegeben.
Was macht eigentlich der Volkstheater-Neubau auf dem Viehhofgelände, wo Ihr Ensemble 2021 einziehen soll?
Stückl: Die Baugrube ist 15 Meter tief, was mich total freut. Wir sind in der Zeit. Jetzt geht es darum, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Man darf heute kein Theater mehr bauen, in dem Foyer und Zuschauersaal reine Repräsentationsräume sind. Das Haus muss auch eine Begegnungsstätte sein. Nun ist schon der Zeitpunkt da, wo die künftige Personalstruktur und der erste Spielplan im neuen Haus zu planen sind.
Gerne werden Sie als Fachmann fürs Katholische bezeichnet. Sind Sie eigentlich gläubig?
Stückl: Mei. – Mei. – Ich hab’ mich wahnsinnig auseinandergesetzt mit der Geschicht’. Ich glaube auch: Jesus ist ein gangbarer Weg. Aber ich bin gleichzeitig von Zweifeln durchsät. Ich hab’ eine 94-jährige Tante mit ganz, ganz festem Glauben. Und ich sag’ mir: Wenn ich den nur hätte!
Zur Person Christian Stückl, 1961 in Oberammergau geboren, ist seit 2002 und mindestens bis 2025 Intendant des Münchner Volkstheaters. 1990 war er erstmals Spielleiter der Passionsspiele in Oberammergau, die er in den Jahren 2000 und 2010 sukzessive weiter reformierte. Auch 2020 wird er die Passionsspiele wieder leiten.