Es gibt einen Kipppunkt. Robbie Williams hat ihn an Ort und Stelle vor gut elf Jahren schon mal spürbar überschritten, Rihanna später ebenso, auch Bono von U2 und Madonna höchstselbst. Es ist der Punkt, wenn die zum Popzirkus gehörende Inszenierung des Superstars einen solchen Bombast an Bedeutung aufbaut, dass der eigentlich dafür bürgende Inhalt unter Überfrachtung zu kollabieren droht. Nun, am vergangenen Freitagabend im Münchner Olympiastadion geschehen beim größten deutschen Popstar.
Helene Fischer in München - Die volle inszenatorische Dröhnung
Dabei: Was sollte schon schiefgehen, wenn Helene Fischer mal wieder hier Station macht? Hat sie nicht erst vor knapp einem halben Jahr auch ganze fünf Mal in der Olympiahalle nebenan bewiesen, dass es keine Grenzen für sie gibt? Mit Unterstützung der Weltklasse-Artisten des Cirque du Soleil und nach ihrem erneuten Millionen-Seller- und Nummer-1-Album „Helene Fischer“ erstmals einem Programm ganz aus sich selbst heraus, ohne Covers trat sie auf. Dabei eröffnete sich die Schlager-Pop-Göttin, die ja bereits 2015 an einem Hüftgurt singend durch ein ausverkauftes Olympiastadion geschwebt war, einen neuen Horizont. Denn nein, so etwas hatte Deutschland bis dahin noch nicht gesehen. Und nun?
Nun geht Helene Fischer inhaltlich zwei Schritte zurück, sattelt in ihrer Inszenierung noch zwei Schübchen drauf und verzichtet dabei weitgehend auf das, was bislang immer zur Stimmigkeit durch Eindruck wesentlich beigetragen hat: ihre eigene, starke artistische Arbeit, die das außergewöhnliche Talent dieser Unterhaltungskünstlerin unterstrich.
Nun tritt sie in der fast durchgängig bestuhlten Arena auf. Ausverkauft ist der Auftritt mit gut 54.000 Zuschauern nicht, wohl auch ob ihrer Auftrittshäufigkeit. Über dem zweieinhalbstündigen Programm der 33-Jährigen thront vor allem eine bombastische Bühne mit riesigen Videoleinwänden links wie rechts und zentral einem mächtigen, ebenfalls visuell bespielbaren H.
Konzert in München: Helene Fischer geht über die Schmerzgrenze
H wie Helene. Sie posiert darauf in Maximaloberfläche – und verlässt sie zu einer ihrer Umzugspausen (es sind insgesamt sechs „Kostüme“) die Bühne, setzen sie umso intensiver und effektreicher extra produzierte Videos in Szene: als Lebensführerin, als Erotikqueen, als Partykönigin.
Nach 20 Minuten wird sie zudem wie eine Karnevalsprinzessin auf dem Dach eines Autos und von Fahnenschwenkern umgeben durch die Arena gefahren, die Bühne selbst spuckt zu aller Bildermacht auch noch den ganzen Abend über Konfetti und Feuer und Feuerwerk, zu „Sowieso“ erscheint Helene als Botticellis göttliche „Venus“... Es ist die volle inszenatorische Dröhnung. Und immer wieder die Frage, die auf das Finale kurz vor 23 Uhr mit „Achterbahn“ hinarbeitet: „Spürst du das?“ - „Sag mal, spürst du das?“ Gewiss.
Aber ebenso spürbar ist eben auch das Gefälle. Zum Beispiel: Warum greift die Helene Fischer, die sich doch eigentlich von irgendwelchen Stimmungs-Covern emanzipiert hat, nun schon früh auf ein ganzes Medley an 90er-Disco-Hits zurück, von „Rhythm is a Dancer“ bis „Sing Halleluja“? Warum wirkt hier plötzlich jedes zweite Bild, ist jede Weitung ihrer eigenen Songs wieder ein Zitat aus der Popgeschichte, von Status Quo bis Madonna?
Warum merkt sie nicht, dass das Covern von Matthias Reims Gassenhauer „Verdammt ich lieb dich“ zu klassischem Burlesque-Stuhltanz schon schlimm auseinanderfällt? Und vor allem: Warum um Himmels Willen muss Helene Fischer dann auch noch auf einer zweiten Bühne mitten im Publikum mit Unterstützung des Vorgruppen-Sängers Ben Zucker ausgerechnet Westernhagens Hymne „Freiheit“ verramschen und missbrauchen?
Es ist, als würde die alte Helene, über die sie eigentlich hinausgewachsen ist, im avisierten Format einer künftigen Helene, das sie womöglich doch nie erreichen wird, scheitern. Das ist jedenfalls albern. Schmerzgrenze überschritten.
Warum macht Helene Fischer es sich so schwer?
Und mit all ihren Hits, diesem Publikum, das auch im Sitzplatz-Parkett vom ersten Song an steht, und ihren Fähigkeiten hätte sie es doch eigentlich so leicht. Helene Fischer hat es etwa geschafft, dass sie ihren Mega-Hit „Atemlos durch die Nacht“ schon nicht mehr als letzten Stimmungshöhepunkt servieren muss (oder wie Andreas Gabalier die größten Hits gleich zweimal spielt).
Sie beginnt damit vielmehr nach eineinhalb Stunden die letzte große Party-Abfahrt, auf der dann „Sowieso“ und „Ich will immer wieder dieses Fieber spür'n“ und „Die Hölle morgen früh“ und „Herzbeben“ und „Mit keinem Andern“ und schließlich „Achterbahn“ folgen – unterbrochen nur von einem kleinen Akustik-Moment mit „Nur mit dir“.
Und ja schon von Beginn an - „Flieger“, „Phänomen“, „Fehlerfrei“ - ist ja eigentlich alles hier voll bei ihr, bei dieser Helene Fischer im Sommer 2018. Sie selbst aber verschwindet in dieser Show, geht in der Ikone auf den Megabildschirmen verloren.
Vielleicht lässt sich eine Präsenz, die ihr die Hallentour noch abverlangte, nicht über ein ganzes Tourjahr durchziehen. Wahrscheinlich ist es darum auch für internationale Stars besser, ganz in übermächtigen Inszenierungen zu verschwinden, um eine ganze Welttournee schadlos zu überstehen.
Aber der Unmittelbarkeit der Begegnung, die im Schlager, aus dem Helene Fischer nun mal stammt, eben doch wesentlich ist, schadet das im Kern. Oder ist die 33-Jährige ohnehin auf dem Absprung, ist das nun das Knirschen einer gewagten und noch unausgereiften Wesensweitung? Ob auf dem nächsten Album nicht auch der erste englischsprachige Song auftaucht?