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Geschichte: 2020 und 1920: Was bringt der Vergleich mit damals?

Geschichte

2020 und 1920: Was bringt der Vergleich mit damals?

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    Hitler 1920: Der erste große Auftritt am 20. August im Münchner Hofbräuhaus.
    Hitler 1920: Der erste große Auftritt am 20. August im Münchner Hofbräuhaus. Foto: Imago Images

    Es gibt Weisheiten, die unabhängig von der konkreten Gestalt der Zeitläufe gelten. So stimmt etwa das, was Kurt Tucholsky im März des abenteuerlichen Jahres 1920 in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne schrieb, sicher auch für unser neues 2020, ganz unabhängig davon, wie abenteuerlich es denn werden wird. Der Autor nämlich fragte: „Erkennen wir etwas von der Zeit, wenn wir uns in ihrer Gegenwart befinden?“ Und antwortete: Nein, denn wir seien unserer Zeit wie der Wanderer, unterwegs an einer Felswand, dieser „viel zu nah, um ihre Struktur, geschweige denn ihre Schönheit zu sehen!“.

    Der Essay hieß „Dämmerung“, und so leuchtet umso mehr ein, dass wir Erkenntnisse über unsere Gegenwart und deren Charakter durch Vergleiche mit einer aus der Distanz bereits erkennbar gewordenen Vergangenheit suchen. Nur dass Sehen da selten auf der Suche nach Schönheit ist…

    Das Tucholsky-Zitat steht in einem aktuellen Buch über das Jahr 1920, das der Kulturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz nun unter dem Titel „Am Nullpunkt des Sinns“ veröffentlicht hat. Was wiederum ein Zitat ist, vom Autor und Dadaisten Walter Serner nämlich, der die Welt nach dem Ersten Weltkrieg als verkommenes Spiel der Täuschung entlarvt sah – ganz im Gegensatz zu Ernst Jünger, der mit seinem Debüt „In Stahlgewittern“ in der „Ethik des Frontsoldatentums“ eine Basis für die neue Zeit sah.

    Damals kurz nach Kriegsende, heute seit 75 Jahren Frieden

    Und so entfaltet Martynkewicz mit oft großen Namen (darunter auch Brecht mit seiner Arbeit an den ersten großen Werken) den Geist des Jahres 1920, der uns vor die Frage stellt, ob uns das auch wirklich etwas fürs Heute zu sagen hat, wie zahlreiche mahnende Vergleiche derzeit nahelegen. Wenn zum Beispiel Volker Kutscher, Erfinder der Zwanzigerjahre-Erfolgsserie „Babylon Berlin“ im Spiegel warnt, wie fragil eine Demokratie doch ist. Oder wenn in Zeiten erstarkenden völkischen Denkens des Aufstiegs Hitlers gemahnt wird, der am 20. August 1920 seine erste große programmatische, von 2000 Zuhörern im Münchner Hofbräuhaus umjubelte Rede hielt. Oder wenn die Propheten eines baldigen Börsen-Mega-Crashs an die Folgen jenes von 1928 erinnern. Verkennt man durch die Spiegelungen nicht die radikal unterschiedlichen historischen Situationen?

    Mit dem Jahr 2020 feiern wir in Deutschland das Jubiläum, seit 75 Jahren in Frieden zu leben. Und 1920 sind „Krieg und Gewalt“, so beschreibt es Wolfgang Martynkewicz, „nicht vergangen – die Vergangenheit dauert noch an“. In politischen Auseinandersetzungen wie in persönlichen Traumata.

    So fügt denn auch Sigmund Freud dem bis dahin in seiner Psychoanalyse herrschenden Lust-Prinzip den gleichwertigen Hang zu Aggression und (Selbst-)Zerstörung hinzu. Was hat das Wanken der Welt von damals mit der unseren zu tun, wenn wir nicht dem Missverständnis Alfred Döblins von damals aufsitzen? Der nämlich regte sich über den 1920 zum allgegenwärtigen Star gewordenen Physiker Albert Einstein und dessen Relativitätstheorie auf, weil er den Slogan „Alles ist relativ“ für verächtlich und fatal hielt: weil so das ohnehin dünne, gemeinsame Fundament der Nachkriegsgesellschaft zersetzt werde. Eine irrationale Assoziationsverbindung, die vor allem etwas über die Untergangsangst von Alfred Döblin selbst sagt.

    „Katastrophenerwartung“ wie damals?

    Ebenso ist es wohl mit unseren gegenwärtigen Spiegelungen, die bei Martynkewicz kaum eine Rolle spielen – auch wenn er die Vergleichspunkte unweigerlich freilegt. So stehen wir ja auch heute vor dem digital erweiterten Bild des „Maschinenmenschen“, das damals von den Massenheeren im Weltkrieg bis in die volle Fahrt der Industrialisierung in den Zwanzigern auftauchte (und bei Fitz Lang in „Metropolis“ auch bald Gestalt annahm). Und so hat uns ein Schlüsselbegriff des Buches ja durchaus auch etwas zu sagen, nämlich: „Katastrophenerwartung“.

    Damals aber noch längst nicht auf die Weltwirtschaft oder Hitler bezogen – es sollten die rauschenden Zwanziger ja erst noch anheben –, sondern gemeint „im Zusammenhang mit dem Untergang der Zivilisation und dem Clash der Kulturen“. Denn in der Zeit des Übergangs herrsche statt Vertrauen in die noch neue Demokratie das Gefühl der Unübersichtlichkeit, der Unordnung in der Gesellschaft. Und darauf wie auch auf die neuen Freiheiten und Freizüglichkeiten, den Liberalismus, der sich daraus in den Zwanzigern in der Gesellschaft entwickelte, fußte eine reaktionäre Gegengesinnung, die nach Ordnung und Struktur verlangte und mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ die Katastrophe kommen sah.

    Wer will, kann in diesen historischen Strukturen immer einen mahnenden Spiegel ausmachen, vor dem man die gegenwärtigen politischen Entwicklungen kritisch prüfen sollte. Und dazu fragen: Waren die Deutschen damals noch nicht bereit für die Demokratie – erkennen sie, heute, am anderen Ende angekommen, deren Wert nicht mehr? 1920 jedenfalls kann noch als etwas gelten, das Martynkewicz als „Jahr zwischen den Zeiten“ beschreibt – ein möglicher Neuanfang (gäbe es den Revisio- und Revanchismus nicht). Seitdem gilt, was der vor 75 Jahren gestorbene Otto Neurath so beschrieb: „Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr

    Ein Anarchist und „Das Recht auf Wohlstand“

    Wobei ein Peter Sloterdijk inzwischen nachschärft: „Passender für unsere Gegenwart wäre wohl dies: dass die Menschheit einer Gruppe von Mafiosi gleicht, die sich an Bord eines Flugzeugs in 12000 Meter Höhe eine Schießerei liefert.“ Der Philosoph meint: „Insofern kann man von einem Prinzip der wachsenden Ungemütlichkeit sprechen.“ Aber vom Umgang mit Ungemütlichkeit, Chancen und Ängsten lässt sich rückblickend immer lernen. Dazu braucht es keine genaueren Parallelen über 100 Jahre deutscher Geschichte hinweg. Sonst läuft unweigerlich alles auf die Angst vor Hitler hinaus und damit auf einen wesentlichen Bestandteil der sprichwörtlichen „German Angst“: dass die Politik wie die Liberalen nämlich eine lähmende Angst vor der Verführbarkeit der eigenen Bevölkerung hat, die der Demokratie selbst nicht gut tut.

    Denn so etwas verleiht dem neuen nationalen Widerstandswahn gegen den Untergang, den ein Björn Höcke in seiner Dresdner Rede 2017 ausgebreitet hat, erst recht Bedeutung. Für einen wie ihn nämlich wäre die historische Parallele besonders wünschenswert.

    Insofern ist es besser, dass Wolfgang Martynkewicz in seinem Buch die Übertragung nur sehr dosiert einsetzt, dafür aber manchmal umso überraschender. Etwa wenn er den damaligen Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin zitiert: „Das Recht auf Wohlstand bedeutet die Möglichkeit, als menschliche Wesen zu leben und die Kinder so aufzuziehen, damit aus ihnen gleichberechtigte Glieder einer besseren Gesellschaft als der unseren werden können.“ Dem können heute wohl viele zustimmen, die alles andere als Anarchisten sind. Martynkewicz meint, zum Beispiel auch eine Angela Merkel.

    Das Buch

    Wolfgang Martynkewicz: 1920 – Am Nullpunkt des Sinns. Aufbau Verlag, 383 S., 24 Euro

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