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Gedenkkultur: Historiker Wirsching: "Corona macht Erinnerung nicht überflüssig"

Gedenkkultur

Historiker Wirsching: "Corona macht Erinnerung nicht überflüssig"

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    Heute vor 75 Jahren ging ein Krieg zu Ende, der überall Verwüstung hinterließ: Das zerbombte Köln 1945.
    Heute vor 75 Jahren ging ein Krieg zu Ende, der überall Verwüstung hinterließ: Das zerbombte Köln 1945. Foto: dpa

    Der 75. Jahrestag des Kriegsendes ist ein markanter Anlass fürs Erinnern und Gedenken. Doch zurzeit scheint alles von Corona überlagert. Hat man überhaupt eine Chance, die Menschen zum Nachdenken über dieses historische Datum zu gewinnen, wo doch die Folgen der Pandemie die Gegenwart komplett durcheinanderbringen? Und sollten wir nicht trotzdem an das Kriegsende vor 75 Jahren denken?

    Andreas Wirsching: Natürlich wird das „runde“ Datum der 75 Jahre nicht die Aufmerksamkeit erzeugen können, mit der ansonsten zu rechnen wäre und die ihm auch gebührt. Trotzdem ist es wichtig, daran zu erinnern. Die Geschichte der NS-Diktatur und ihrer Verbrechen bleibt ein entscheidendes Datum der deutschen, jüdischen und internationalen Geschichte. Ob wir es wollen oder nicht: Die Vergangenheit klammert sich von hinten an uns an. Wenn wir nicht aktiv über sie nachdenken, sie erforschen, an sie erinnern, holt sie uns in anderer und meist gefährlicher Weise wieder ein. Wo Geschichte nicht aufklärerisch-rational vermittelt wird, wuchern die Legenden.

    In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbot versucht man, ein virtuelles Erinnern zu ermöglichen. Die KZ-Gedenkstätte Dachau etwa begeht den Jahrestag der Befreiung mit einem digitalen Angebot, als Augmented Reality mit Fotos und Audioeinspielungen. Kann das funktionieren, kann das die Begegnung mit Zeitzeugen, das Erleben des Ortes ersetzen?

    Wirsching: Der unmittelbare Eindruck, den der Besuch historischer Stätten wie der KZ-Gedenkstätte Dachau vermitteln kann, ist nicht zu kompensieren. Auch die digitale Präsentation von Bild, Ton und Text kann nur ein schwacher Ersatz sein. Die Zeitzeugen und ehemaligen Häftlinge hätten heuer, bei diesem „runden“ Jahrestag – dem letzten, den sie wahrscheinlich erleben – noch einmal große internationale Aufmerksamkeit für ihre Geschichte und ihr Leid erhalten können. Dass die Feierlichkeiten wegen Corona nun ausfallen, das ist für sie geradezu tragisch.

    "Das bereitgestellte Wissen ist extrem groß"

    Nach 75 Jahren ist der zeitliche Abstand sehr groß. Für meine Enkel sind Informationen über Hitler und den Nationalsozialismus, über Holocaust und Krieg Nachrichten von einer fernen Galaxie. Muss man die Historisierung hinnehmen, muss man sich damit auch darauf einstellen, dass die Mahnung „Nie wieder!“ ihre Eindringlichkeit verliert?

    Wirsching: Unsere Gesellschaft befindet sich in einem historischen Veränderungsprozess, nicht nur aufgrund des Generationenwandels, sondern auch infolge von Migration und Zuwanderung. Insofern ist eine Historisierung in dem Sinne unvermeidlich, dass die heutigen Generationen die Geschichte von NS-Diktatur, Krieg und Holocaust nur noch über historische Bildung kennenlernen. Allerdings mangelt es nicht an Angeboten. Das durch die Forschung bereitgestellte und öffentlich abrufbare Wissen ist extrem groß. Medien, Sachbücher und Einrichtungen der historisch-politischen Bildung informieren umfassend über die NS-Zeit. Aber natürlich gibt es immer eine Kluft zwischen den Möglichkeiten zum Wissenserwerb und dem faktischen Wissensstand. Umso wichtiger ist es, an die Vergangenheit nicht nur im Sinne einer ritualisierten Erinnerungskultur zu erinnern. Es ist essenziell, dass auch junge Menschen heute Kenntnisse über die Ereignisse der NS-Zeit selbst und deren Schrecken erwerben. Es geht darum, in den Gedenkstätten, im Unterricht, aber auch in den Medien durch die Auswahl und Präsentation von Quellen einen authentischen Eindruck des Geschehenen zu vermitteln. Hier ist die Kreativität der Multiplikatoren gefragt, neue Formate zu entwickeln.

    Wir leben in einer widersprüchlichen Zeit: Einerseits gibt es eine lebendige Erinnerungskultur, andererseits sind die Schamgrenzen für ausgrenzende und rassistische Äußerungen deutlich niedriger geworden. Wie ist Ihre Einschätzung: Welche Seite überwiegt?

    Wirsching: Es ist nicht leicht, zu sagen, was überwiegt. Einerseits sind in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich Milliarden öffentlicher Gelder in die historisch-politische Bildung und damit in die Festigung des historischen Bewusstseins investiert worden. Andererseits haben rechtsextremes Denken, Feindkonstruktionen und Hasspropaganda massiv zugenommen. Dies ist weniger ein Zeichen für soziale und ökonomische Probleme – die es natürlich auch gibt – als für eine Kulturkrise. Der neue Rechtsradikalismus ist im Grunde der Extremismus einer Mitte, so paradox sich das anhört. Normalerweise gewährleisten ja die sozialen Mittelschichten die Stabilität einer Gesellschaft. Heute fühlen sich allerdings Teile der bürgerlichen Mitte durch beschleunigte Wandlungsprozesse bedroht: durch die Globalisierung, die Migration und durch eine Vielzahl anderer anonymer Vorgänge, die sie nicht durchschauen und kontrollieren können. Daraus folgt eine Identitäts- und Statusunsicherheit, die anfällig für nationalistische oder sogar völkische Propaganda ist. Umso wichtiger ist es, dass die lebendige Demokratie gestärkt und wo immer nötig verteidigt wird, und dass auch neue Formen der partizipativen, zivilgesellschaftlich gestützten Demokratie entwickelt werden.

    Andreas Wirsching
    Andreas Wirsching Foto: dpa

    Als wegen Corona die ersten Einschränkungen verfügt wurden, begann sehr schnell eine Debatte über deren Legitimität. Ist das nicht ein Zeichen für eine lebendige Demokratie, die wir in 75 Jahren seit 1945 gelernt haben?

    Wirsching: Das habe ich anders wahrgenommen. Zunächst gilt natürlich die banale Einsicht: Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Parlamente, Justiz, Zivilgesellschaft und die kritische Öffentlichkeit, also die Garanten der Demokratie, stehen zurück. Aber wer in derart massiver Weise demokratische Grundrechte aufhebt und damit einen extrakonstitutionellen Notstand verantwortet, sollte eine Idee haben, wie er aus dieser Situation wieder herauskommt. Signale dafür habe ich gerade anfangs vermisst, und es gab aus meiner Sicht auch einen starken Konformismus. Abweichende Meinungen, die auf die exorbitanten sozialen, ökonomischen und psychologischen Kosten des Lockdown hinwiesen, wurden sehr rasch mit moralischen Argumenten beiseite gedrängt. Zwar will ich nicht behaupten, dass die Maßnahmen nicht notwendig waren. Nach aller Wahrscheinlichkeit waren sie es, und wir müssen uns auch gegen Verharmlosungen oder Verschwörungstheorien wehren. Allerdings sind die Maßnahmen singulär und historisch ohne Vorbild.

    Aber ist das zu kritisieren?

    Wirsching: Bei den letzten beiden großen Grippe-Pandemien 1957 und 1968-70, die in der Bundesrepublik jeweils circa 30.000 bis 40.000 und weltweit bis zu einer Million Tote forderten, wurde Ähnliches auch nicht entfernt in Gang gesetzt. Vielmehr haben Politiker und Behörden damals abgewiegelt und wollten vor allem keine Panik aufkommen lassen. Heute ist das genaue Gegenteil gemacht worden. Zudem wurde aber der Eindruck erweckt, der Staat könne jeden einzelnen schützen, sei es vor dem Virus, sei es vor den Folgen des Lockdown. Das ist illusionär, und ich befürchte, dass nach dem Abklingen des Konformismus sehr bald bittere politische Rechnungen gestellt werden. Es ist eben keine Kleinigkeit, wenn durch staatliche Maßnahmen Existenzen vernichtet werden. Eine ehrliche Diskussion über die politisch-gesellschaftlichen Folgen sehe ich im Augenblick aber nicht.

    "Corona wird sich als starker Katalysator erweisen"

    Wenn Sie sich Deutschland in zehn oder 25 Jahren vorstellen – das wäre dann 85 oder gar 100 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs –, was sehen Sie da: Eine gestärkte Demokratie, aus der Rechtspopulismus und -extremismus verschwunden sind, oder eher eine Art Präsidialdemokratie mit einer starken Führungsfigur und beschränkter Teilhabe der Bürger? Oder vielleicht sogar ein

    Andreas Wirsching
    Andreas Wirsching Foto: dpa

    Wirsching: Ich fürchte, ein solcher Blick in die Glaskugel fällt angesichts der Herausforderungen, vor die uns gerade die Corona-Krise stellt, nicht allzu rosig aus: Ich vermute, dass sich die Corona-Pandemie beziehungsweise die Folgen der staatlichen Gegenmaßnahmen als starker Katalysator erweisen. Das heißt, sie werden viele Prozesse beschleunigen, die schon längst begonnen haben. Und das betrifft insbesondere die Problemzonen unserer Demokratie. Sehr schwierig wird zum Beispiel die Diskussion über die soziale Ungleichheit werden, die ja gegenwärtig in grelles Licht getaucht und dramatisch verschärft wird. Bildungs- und Schulprobleme, die man jetzt mit der Illusion des digitalen Lernens zu beschwichtigen versucht, drängen schon jetzt mit Macht auf die Tagesordnung. Ökologische Forderungen werden angesichts dessen, dass der Lockdown die Umwelt schont, umso nachdrücklicher gestellt werden. Die international ohnehin hohe Staatsverschuldung wird ungebremst weiter steigen.

    Was heißt das für Europa und darüber hinaus?

    Wirsching: In Europa setzt sich leider der Trend zur Renationalisierung fort. Die Schließung der innereuropäischen Grenzen bedient bereits jetzt nationalistische Affekte und suggeriert, dass Europa keine Rolle spielt. In Ungarn und in Polen wird die Krise instrumentalisiert, um den Weg zum Autoritarismus oder sogar zur Diktatur weiter zu ebnen. Weltpolitisch droht sich der Gegensatz zwischen den westlichen Staaten und China zuzuspitzen. Zu befürchten sind wachsendes Misstrauen und protektionistische Tendenzen. Dies alles sind keine guten Voraussetzungen für das Verschwinden von Rechtspopulismus und Extremismus, wobei Letzterer durchaus auch wieder von links kommen kann. So oder so: Es kommen schwere politische Zeiten auf unsere Demokratie zu.

    Was ist zu tun, damit Ihre negative Vision nicht wahr wird?

    Wirsching: Ich halte es für extrem wichtig, dass die Politiker ein Bewusstsein für die Dramatik entwickeln. Wir werden sehr viel Geduld aufbringen müssen und sehr viele werden auch erhebliches Leid zu ertragen haben, um die Folgen dieser Krise zu bewältigen. Das ist der beste Nährboden für die großen Vereinfacher und Rattenfänger, die meinen, uns mit Feindkonstruktionen und Schuldzuweisungen die Dinge „erklären“ zu können. Angesichts dessen wieder in die normalen Spuren demokratischer Parteipolitik zurückzukehren, dürfte sich verbieten. Denn die große Gefahr besteht darin, dass sich die politische Vertrauenskrise, die ja auch in Deutschland schon seit Jahren spürbar ist, durch die ergriffenen Maßnahmen noch einmal dramatisch verschärft. Politiker und Parteien, Medien und zivilgesellschaftliche Initiative – also eigentlich jeder von uns – werden gefordert sein, ehrliche Bilanzen zu ziehen und konstruktive Lösungen anzugehen.

    "Ein bisschen Optimismus ist erlaubt"

    Denken wir noch einmal an das Kriegsende vor 75 Jahren: 1945 mussten die Bevölkerungen in Europa damit anfangen, sich aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs herauszuarbeiten, und sie haben es geschafft. Sollten wir es dann nicht auch schaffen, die Folgen der Coronakrise zu überwinden?

    Wirsching: Schon mehrfach ist gesagt worden, die jetzige Situation sei die größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist noch zu früh, solche Vergleiche zu ziehen, zumal wir heute ja nun keinen Krieg erleben. Das sollte man nicht vergessen, denn das ist schon ein elementarer Unterschied. Vielleicht ist der Schock heute auch deshalb so groß, weil wir plötzlich und ohne Vorwarnung aus einer insgesamt sehr bequemen Welt herausgefallen sind. Aber wir leben im Frieden, und die gegenwärtigen Herausforderungen unterscheiden sich fundamental von denen des Jahres 1945. Also insofern ist schon ein bisschen Optimismus erlaubt. Die Aussichten sind stark eingetrübt, aber wir können hoffen, dass unsere Gesellschaft dynamisch und flexibel genug ist, um sich aus der Krise herauszuarbeiten. Dabei wird sie auch neue Kräfte entfalten, die wir heute noch gar nicht kennen.

    Zur Person: Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. An der Ludwig-Maximilians-Universität lehrt er zudem Neueste Geschichte.

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