Frage an die vielen tausend Musik liebenden Freunde der Augsburger Freilichtbühne: Wann wohl wurde dort der letzte Wagner aufgeführt und wann der letzte „Fliegende Holländer“? Die Antwort glaubt man kaum, ist aber durch das Archiv des Theaters Augsburg verbürgt: Der letzte Wagner erklang dort vor mehr als einem halben Jahrhundert, 1955 („Rienzi“). Und ein „Fliegender Holländer“, immerhin ein Zentralwerk deutscher Musikgeschichte, war dort seit der Erbauung 1929 noch nie zu erleben – obwohl die Freilichtbühne mit ihren Spielen einst für so „reichswichtig“ galt wie Richard Wagner selbst.
Wenn jetzt also, 2012, der „Fliegende Holländer“ vor der Elias-Holl-Kulisse anlegt und brautwerbend an Land geht, dann ist das überfällig – und begrüßenswert auch deswegen, weil sich in den vergangenen 20 Jahren der Freilichtbühnen-Programmschwerpunkt merklich zur leichteren Muse hin verschob. Wer nun aber meint, Richard Wagner sei zu schwer, zu anspruchsvoll, zu langwierig, dem sei gesagt: Der „Fliegende Holländer“ ist mit seinen knapp zweieinhalb Stunden Spielzeit nicht nur der kürzeste Wagner, sondern auch der eingängigste, klarste, dramatisch-bündigste. Eine wirksame Einstiegsdroge. Gleichzeitig ist dieses Durchbruchswerk von Wagner aber auch eine theatrale Herausforderung – zumal auf der szenisch und akustisch so schwer zu bedienenden Freilichtbühne, die sich in ihrer Dimension dem Raffinierten und Subtilen entzieht. Das Theater Augsburg hätte es sich gewiss leichter machen können – und dazu ist das nun zu Sehende und zu Hörende in Relation zu setzen. Es erweist sich im Szenischen als solide, im Orchestralen als erfreulich bis mitreißend, im Vokalen dank einer bedingungslos liebenden Senta als Heimspiel.
Selbst Senta schwingt die rote Fahne
Einen Fjord oder zumindest einen Bodensee, wo zwei Viermaster in ihrem Element wären, kann Augsburg dem „Fliegenden Holländer“ nicht bieten; folglich tritt der Regisseur und Bühnenbildner Christian Sedelmayer quasi die Flucht nach vorn an und zentriert, fokussiert das gespenstische norwegische Geschehen im Wesentlichen auf der Mittelbühne – anfangs allerdings etwas zäh. Hinein in eine frühindustrielle Gesellschaft, wo Männer mit Bohrrohr sowie Schiffsschraubenwelle und Frauen an der Webmaschine hantieren, bricht mit blutrotem Segel der verdammte Holländer als irreale Macht von außen und von oben. Die irdisch-realen Mächte dieser dramatischen Maritim-Ballade aber sind Menschenschinder in Chefpositionen: Kapitän Daland, ein rabiater Alkoholiker und die Weberei-Vorarbeiterin Mary.
Kein Wunder, dass die Geknechteten eine rote Fahne schwingen, selbst Senta. Wagners Sympathie für die europäischen Revolutionen in den 1840er Jahren erhält Auftritt. Das blutrote Segel des Holländers, die rote Fahne der Unterdrückten: Sie sind auch gleichsam Hoffnungssymbol und Stoff des Innenfutters von Sentas Kleid aus kariertem Augsburger Schlossertuch (Kostüme: Saskia Rettig).
Später dann wird das Politische verdrängt zugunsten der individuellen Dreieckstragödie zwischen Senta, Erik und Holländer. Nun kommt eine Psycho-Couch ins Spiel. Zum Finale aber weitet sich die Szene enorm; nun ist große Oper mit Affekt und Effekt geboten – und sogar ein halbes Happy End: Der Holländer und Senta entsteigen nicht in verklärter Gestalt dem Meer, wie es RW vorschlug, sondern schippern gemeinsam, auch ohne gesetzte Segel, davon.
Schleichender Bösewicht, hinkende Tücke
Zumal, da es dunkel geworden ist, wirken die Bilder durchaus suggestiv und schlüssig. Vor (Publikums-)Gericht und auf hoher See ist man eben doch nicht nur allein in Gottes Hand. Gleichwohl darf angemerkt werden: Mitunter kitzelt Christian Sedelmayer die Schauerromantik etwas stummfilm-klischeehaft heraus – etwa wenn die Matrosen nach des Holländers Schätzen gieren, wenn dieser die Senta bösewichtig umschleicht, wenn Mary tückisch hinkt, etc.
Sally du Randt als Senta ist die bestimmende vokale Kraft des Abends, früh gipfelnd in ihrer Ballade mit strahlenden g-Einsätzen, ausklingend mit einem leuchtenden „Treu dir bis zum Tod!“. Da kann Stephen Owen in der Titelrolle bei oft weit ausschwingendem Vibrato nicht mithalten – wohl aber Christopher Busietta in seinem lyrischen Steuermann-Lied. Der Bass-Statur von Guido Jentjens (Daland) wird leider entgegengearbeitet, wenn er einen angetrunkenen Springteufel zu geben hat. Zuverlässig: Kerstin Descher als Mary; etwas eng singend: Ji-Woon Kim (Erik). Neben Senta boten die Philharmoniker die überzeugendste Leistung des Abends. Hört man in sie hinein, lauscht ihnen ab, wann Rune Bergmann am Pult die Musik in sich ruhen lässt und wann er sie schürt, so teilen sich erstaunliche Farb-, Dynamik- und Ausdruckswerte mit. Untergründig-brodelnd die Ouvertüre, mächtig sich steigernd das Erwachen der „Holländer“-Besatzung (dritter Aufzug). Wenn nun noch ein Anziehen des Tempos in mancher Solonummer erreicht werden könnte, der Abend gewänne an weiterer Durchschlagskraft.
Großes Brillantfeuerwerk ob der Erlösung des schwarzen Mannes durch die liebende Frau.