Am Sonntag geht es los. Dann zieht Nora Fingscheidt mit ihrem Mann und ihrem achtjährigen Sohn nach Los Angeles. „Für ein Jahr, ich habe da einen Job“, sagt die 36-Jährige am Dienstagabend im Augsburger Thalia-Kino, während nebenan, in einem mit 300 Zuschauern ausverkauften Saal, ihr Spielfilm-Debüt läuft. Die harte Geschichte über ein neunjähriges Mädchen, das traumatisiert und immer wieder austickend die Jugendhilfe überfordert: „Systemsprenger“ ist die Sensation des deutschen Filmjahres. Inzwischen mit 22 internationalen Preisen ausgezeichnet, von Taiwan über Chile bis zur Ukraine, dazu ein Silberner Bär bei der Berlinale und die Nominierung als deutscher Oscar-Kandidat.
Nora Fingscheidt, zugleich sanft und bestimmt wirkend, ein bisschen dunklen Samt in der Stimme, das lange Haar leicht zu Anarchie neigend, die blauen Augen lebhaft, die Fingernägel knallrot: Sie hat den Film auch schon in Südkorea vorgestellt, er ist in über 40 Länder verkauft, gerade kommt sie auf ihrer Kinotournee aus Prag. 38 solcher Termine wie an diesem Tag in Augsburg und abends noch in München sind es, die sie nach Abschluss der Kinotour am Mittwoch in Mannheim und Heidelberg absolviert hat, in 16 Tagen. Und dabei etwas erlebt, was sie nicht zu hoffen gewagt hätte. Nüchtern in Zahlen ausgedrückt: 50000 haben den Film inzwischen gesehen, in 80 deutschen Kinos läuft er jetzt zusätzlich an – „weil die Menschen hingegangen sind und gefragt haben, warum die den Film nicht zeigen“, sagt Nora Fingscheidt voller Überschwang. Denn ganz unnüchtern ausgedrückt: Hier geht ein Traum in Erfüllung. „Dass ich so einen Film machen kann, fürs Kino, und dass die Menschen dann trotz eines so schweren Themas wirklich ins Kino gehen – das ist Wahnsinn!“ Dagegen zu Los Angeles, zu Hollywood nur: Ich habe da einen Job?
Ihre Vorbilder hat Nora Fingscheidt im europäischen Kino
Der Unterschied erzählt viel über die Regisseurin, über Nora Fingscheidt, die aus Braunschweig stammt, an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg studiert hat und heute mit ihrer Familie in Hamburg lebt. Auf eine kurze Antwort von ihr gebracht: „Ich habe nie von Hollywood geträumt.“ Als Kind und als Jugendliche hatte sie zwar auch die großen Dramen von dort geliebt, sie nennt „Einer flog übers Kuckucksnest“ und „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ und „Der mit dem Wolf tanzt“. Aber geprägt hätten sie viel mehr koreanische oder auch russische Filme und vor allem das europäische Kino. „Die großen Misanthropen“, sagt sie, Michael Haneke und Lars von Trier, die Brüder Dardenne und Gaspar Noé, Kim Ki-duk – „ich mag Leute, die eine radikale Handschrift haben, ich mag es, wenn Leute sich was trauen“.
Tatsächlich traut sie sich selbst ja auch so einiges. Im Dokumentarfilm „Ohne diese Welt“ (2017) etwa eine zweistündige, fast wortlose Dokumentation über das Leben in einer Mennoniten-Sekte im nördlichen Argentinien. Zuvor bereits die filmische Begegnung mit einem Holocaust-Überlebenden namens Adolf in Venice Beach. Und nun in „Systemsprenger“ eine Härte, die etwa den amerikanischen Verleihern zu viel war, sodass keiner den Film übernehmen wollte, bis er nun in die Oscar-Vorauswahl kam.
Und sie mutet sich auch selbst die ganze Breite, die ganze (Un-)Tiefe des Themas zu. Sieben Jahre hat sie den Stoff recherchiert, nachdem sie bei einem anderen Dreh zufällig auf das Phänomen der „Systemsprenger“ gestoßen war, damals ein 14-jähriges Mädchen, untergebracht in einem Obdachlosenheim für Frauen in Stuttgart. Ein ganzes Jahr hat sie mit der Hauptdarstellerin Helena Zengel gearbeitet, damals wie die Filmfigur Benni neun Jahre alt. „Und das nächste Projekt, das ich hier in Deutschland machen möchte, ist ein Film, der spielt Ende der 50er Jahre“, sagt Fingscheidt. „Es geht um eine wahre Geschichte über einen Lehrer, der eine Doppelidentität hatte, das ist dann politisch, historisch, das riech ich schon, da sitz ich schon zwölf Jahre dran, nicht nonstop, aber immer wieder habe ich versucht, das aufzuschreiben – da sehe ich schon, dass das wieder so ein Monstrum wird.“
Verglichen damit ist „der Job“ in Hollywood – bei dem in Vancouver gedreht wird, mehr darf die Regisseurin nicht verraten – eben eine ganz andere Filmwelt. Vermittelt wurde Fingscheidt von Veronika Ferres, die dort immer wieder co-produziert und aktiv wurde, nachdem sie „Systemsprenger“ bei der Berlinale gesehen hatte. Und Traum hin oder her – „ein solches Angebot lehnt man dann natürlich auch nicht ab, es wird eine Erfahrung werden“. Als „ausführende Regisseurin“ wie sie es nennt. Weil es nicht ihr eigener Stoff sei und Entscheidungen immer mit Studio, Produzenten und Hauptdarstellerin zu treffen seien. „Es soll so kommerziell wie möglich sein für so viele Leute wie möglich. Und das muss ich mal gucken, wie’s mir damit so geht“, sagt Fingscheidt. Und: „Ich komme auf jeden Fall auch wieder zurück. Denn ich liebe europäisches Kino – und ich liebe es auch, in meiner Muttersprache zu drehen, allein für die Feinheit der Inszenierung.“
Keine Berührungsangst vor Netflix & Co.
Ob das bei Helena auch so ist? Die inzwischen elfjährige Hauptdarstellerin aus „Systemsprenger“ dreht bereits in Hollywood, einen Western an der Seite von Superstar Tom Hanks. Aber schon beim ersten Casting bei Fingscheidt hatte sie ja gesagt: „Ich will ein Star werden.“ Die Regisseurin dagegen will spannende Filme machen – kann aber freilich auch nicht bei jedem neuen ein Monstrum fürs Kino stemmen. Nach Drehabschluss von „Systemsprenger“ war sie ja auch erst mal zwei Monate krank. Insofern nennt sie Hollywood auch „Therapie-Arbeiten“. Und sie ist auch aufgeschlossen gegenüber den Streaming-Diensten: „Wenn ich’s mir aussuchen dürfte, würde ich natürlich nur fürs Kino drehen. Aber die Arbeitsrealität sieht ganz anders aus. Nur als Kino-Filmemacher zu überleben – schwierig.“ Und Netflix, HBO und Co. böten ja auch mitunter eine größere Offenheit für Gewagteres, Kreatives: „Deshalb finde ich die Parallelexistenz ja auch ganz schön“, sagt Nora Fingscheidt, die Frau der Stunde im deutschen Kino, mit Blick auf die weitere Zukunft.
Und die nähere? In Los Angeles wäre sie ja nun schon mal, wenn im Februar dort die Oscars vergeben werden. Wäre das nicht doch auch Wahnsinn? Also schon mal unter die besten acht internationalen Filme gewählt und damit zur Gala eingeladen zu werden? Oder gar die Trophäe zu gewinnen? Die selbst oscarprämierte Kollegin Caroline Link hält das für eher unwahrscheinlich, weil die Academy eher nicht auf solche harten Stoffe, sondern auf Historisches, auf große Panoramen stehe. Nora Fingscheidt sagt: „Wenn’s passiert, wäre das natürlich toll, aber darüber denke ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht nach.“ Es ist der einzige Moment während der Begegnung, in dem sie nicht ganz offen wirkt.