Es könnte eine durchaus spannende Gala sein, wenn in der Nacht zum Montag unserer Zeit wieder die wichtigsten Filmpreise der Welt vergeben werden. Es könnte Oscar-Rekorde, Oscar-Neuheiten, Oscar-Sensationen geben. Dazu gleich. Denn zunächst verschwindet das alles mehr denn je hinter einem großen Fragezeichen: Wer hat schon genug nominierte Filme gesehen, um wirklich mitfiebern zu können?
Wenn in der Vergangenheit mitunter das Problem war, dass einzelne Streifen erst nach der Verleihung in unsere Kinos kamen oder höchstens in den kleinsten Kinos der größten Städte zu sehen waren – diesmal sind die Filmtheater wegen Corona ohnehin alle geschlossen. Statt breites Kandidatenerlebnis im Kino blieb so nur das Mosaik der Streaming- und Video-on-Demand-Dienste, wenn man nicht gerade blind-fanatischer und finanziell sorgloser Rundum-DVD-Käufer ist.
Streaming-Mosaik: Von acht Kandidaten für "Bester Film" sind zwei auf Netflix
Aber war das nicht ohnehin, was nicht wenige für die Zukunft des Films prognostiziert hatten: die Verdrängung der Filmtheater durch das Heimkino, beschleunigt durch Corona? Insofern mögen diese Oscars eine Ausnahme darstellen – sie sind auch ein Fanal. So also würde die Filmwelt ohne Kinos wirken. Und so belanglos könnten die wichtigsten Filmpreise der Welt werden.
Einmal zum Beispiel die Liste der für „Bester Film“ Nominierten abgeschritten: „The Father“, „Judas and the Black Messiah“ „Mank“, „Minari“, „Nomadland“, „Promising Young Woman“, „Sound of Metal“, „The Trial of the Chicago 7“ – was haben Sie davon gesehen? Wenn Sie Netflix-Abonnent sind, könnten es immerhin zwei Filme sein. Darunter der Schwarz-Weiß-Film „Mank“, mit dem gleich eine weitere Frage aufkommt: Was nämlich bedeutet der Wegfall der Kino-Leinwände ästhetisch? Der zuletzt nominierte Schwarz-Weiß-Streifen bei den Oscars war Alfonso Cuarons „Roma“: im Fernsehformat ein ganz schöner, aber etwas langatmig, leicht manierierter Film – im Kino dagegen ein atmosphärisch überwältigendes Erlebnis!
Diese traurigen Oscars, die es eben solche bleiben werden, auch wenn Hollywood für das virtuelle Corona-Gala-Puzzle ohne roten Teppich alles an moderierenden Promis, von Brad Pitt über Halle Berry bis Harrison Ford, von Renee Zellweger über Joaquin Phoenix bis zu Shooting-Star Zendaya – sie wären Vorzeichen einer traurigen Zukunft. Denn der Zerfall des Publikums in Abonnentengruppen wäre ein Graus für die Freunde des Films, aber auch fatal für die Relevanz des Mediums selbst – was auch nicht wesentlich gemildert würde, wenn die Streifen halt dann doch auch irgendwie mal noch in Alibi-Kürze ins Rest-Kino kämen. Gegen das Oscar-Fanal aber gibt es ein Hoffnungssignal aus China: Nach Ende des Kino-Lockdowns dort strömen die Menschen mehr denn je an die Leinwände. Ließe sich das allerdings nicht übertragen, könnte es ein anderes Fanal sein. Derzeit sind neun der zehn erfolgreichsten Filme des Jahres weltweit aus China stammend, auf Platz eins: „Hi Mom“, dahinter „Detective Chinatown 3“ …
Dem hätten die Nominierten der Oscars eigentlich einiges entgegenzusetzen. Und damit zu eigentlich spannenden Fragen der Verleihung.
Oscars für Anthony Hopkins und Chloe Zhao wären historisch
Zum Beispiel nämlich könnte die Regisseurin Chloé Zhao, gerade mal 39, mit ihrem Film „Nomadland“ theoretisch mit Walt Disney gleichziehen. Die in Peking geborene Filmemacherin ist nämlich nicht nur die erste nichtweiße Frau, die in der Sparte „Beste Regie“ nominiert wurde, sie könnte nach Kathryn Bigelow (2010 mit „Hurt Locker“) nicht nur die zweite Frau überhaupt sein, die diesen Oscar auch gewinnt – sie ist zudem persönlich für den besten Schnitt, das beste adaptierte Drehbuch und als Produzentin nominiert. Gewinnt sie alle vier, schafft sie, was bislang nur die Legende Walt 1954 geschafft hat.
Anthony Hopkins könnte einen Altersrekord aufstellen. Mit inzwischen 83 ist er für die Hauptrolle in „The Father“ nominiert und wäre bei einem Sieg (es wäre nach dem 1992 als Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“ sein zweiter) deutlich älter der bisher älteste Hauptrollen-Gewinner Henry Fonda (76 bei „Am goldenen See“, 1982) und knapp älter als der aktuell älteste prämierte Schauspieler Christopher Plummer (Nebenrolle 2012 in „Beginners“).
Wird Chadwick Boseman der dritte Oscar-Gewinner nach seinem Tod?
Chadwick Boseman könnte der Dritte in der Geschichte sein, der posthum den Oscar holt. Vor acht Monaten im Alter von erst 43 Jahren an Krebs gestorben, ist er ebenfalls als bester Hauptdarsteller nominiert, in seiner letzten Rolle als Jazz-Trompeter in „Ma Rainey’s Black Bottom“. Er träte zu Peter Finch (Hauptrolle in „Network“, 1976) und Heath Ledger (Nebenrolle als Joker in „The Dark Knight“, 2009).
Und schließlich könnte sich die unendliche Pechsträhne von Hollywoodstar Glenn Close weiter verlängern. Die inzwischen 74-Jährige ist für ihre Nebenrolle in „Hillbilly Elegy“ nominiert und bei sieben bisherigen Nominierungen (erstmals 1983 für „Garp und wie er die Welt sah“) immer leer ausgegangen. Schon das ist Rekord. Dafür könnte Andra Day direkt mit ihrem Debüt in „The United States vs. Billie Holiday“ gleich die Hauptrollen-Trophäe abräumen.
Ein Sieger der Oscars scheint indes bereits festzustehen, mit sage und schreibe 35 Nominierungen: Netflix. Der totale Triumph jedoch wäre der erste Titel als bester Film mit „Mank“ oder „The Trial of the Chicago 7“. Willkommen in der Zukunft?
Die Oscar-Gala wird in der Nacht zum Montag um 2 Uhr unserer Zeit von ProSieben übertragen, TV und online.
Lesen Sie außerdem
Kritik zu "United States vs. Billie Holiday": Sängerin Andra Day spielt Filmrolle grandios
- Kritik zu "United States vs. Billie Holiday": Sängerin Andra Day spielt Filmrolle grandios
- Kritik zu "Tilo Neumann und das Universum": Lehrer in der Krise
- Kritik zu "Mirella Schulze rettet die Welt": Die Greta der deutschen Provinz
- Kritik zu "Sky Rojo": Serie auf Netflix mit drastischen Gewaltszenen