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Festivalsommer 2020: Abgesagt: Die beste Zeit des Jahres

Festivalsommer 2020

Abgesagt: Die beste Zeit des Jahres

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    Die Festival-Saison 2020 fällt aus.
    Die Festival-Saison 2020 fällt aus. Foto: Daniel Karmann, dpa

    Sitzt ein halbes Dutzend Jungs im Kreis um einen Einweggrill und lässt eine Flasche mit Hochprozentigem rumgehen. Der Abend ist sommerlich lau, und obwohl die Gruppe inmitten eines riesigen, jeden Quadratmeter in Beschlag nehmenden Dschungels aus Zelten sitzt, wirkt hier alles still und friedlich, geradezu idyllisch. Bloß aus der Ferne wehen die dumpfen Reste von Musik heran. Hier im Kreis lacht man über gemeinsame Erinnerungen. Die Hälfte der Jungs trägt Fan-Shirts der Band Iron Maiden. Und tatsächlich sind die, die da gerade hinterm Horizont der Runde live auf einer Bühne dröhnen, eben jene legendären Metal-Musiker aus Großbritannien: Maiden! Wer aber die Anfang-Zwanziger fragt, warum sie nicht wie Zehntausende andere jetzt ihren Helden zujubeln, erntet nur amüsierte Blicke: Du hast wohl nicht verstanden, was das hier ist und worum es hier geht?!

    Es war „Rock im Park“, erstes Juni-Wochenende im Jahr 2014. Typisch Festival?

    Eine gemischte Gruppe aus Mittvierzigern steht am Einlass zwischen Frankenstadion und ehemaligem Reichsparteitagsgelände. Mit den Massen von der Straßenbahn sind sie hierhergepilgert, darunter Einzelne, ausgelassen in Plüschkostümen, Einkaufswagen voller Bierpaletten schiebend – hier liegt Aufregung in der Luft. Denn diese Frauen und Männer fiebern bereits am Nachmittag dem spätabendlichen Höhepunkt entgegen, dem Auftritt von Rammstein. Um da ganz vorne im Zuschauerraum zu stehen, haben sie im Hotel bereits probiert, ob sie halten, die Inkontinenzwindeln. Denn mindestens zwei Bands zuvor wollen sie schon auf die besten Plätze und dann nicht mehr wegen eines Gangs zu den Dixie-Toiletten weichen müssen. Sie wollen inmitten der singenden, schwitzenden, gepresst wogenden Menge ihren Helden ganz nahe sein.

    Es war „Rock im Park“, erstes Juni-Wochenende im Jahr 2010. Auch typisch Festival? Ja, weil es eben all die Temperamente des Feierns direkt nebeneinander zulässt und vereint – und zwar alle Jahre wieder im Sommer: der organisierte Ausnahmezustand.

    An diesem ersten Juni-Wochenende des Jahres 2020 wird das weitläufige, von Wäldchen durchsetzte Gelände am Nürnberger Dutzendteich aber eine ganz normale städtische Parkanlage sein. Kein Ausnahmezustand. Keine Massen, keine Prozessionen und kein Prosten, kein Zelten, kein Wogen und kein Dröhnen. Wie auch am Nürburgring in der Eiffel, wo traditionell parallel „Rock am Ring“ stattfindet, als Zwillingsevent der größte der Branche in Deutschland mit über 150.000 Besuchern und zugleich das jährliche Signal Anfang Juni, dass es jetzt richtig losgeht mit den Festivals.

    Aber es geht eben nichts los im Jahr 2020, nirgends.

    Die Festival-Branche wurde durch Corona auf Null gesetzt

    Kein „Wacken“, kein „Southside“, kein „Lollapalooza“, kein „Splash“, keine „Fusion“, kein „Summerjam“. Auch kein „Full Force“, kein „Tollwood“, kein „Deichbrand“, kein „Highfield“, kein „Taubertal“, kein „Parkookaville“ . Und auch kein „Modular“ in Augsburg“, kein „Ikarus“ in Memmingerberg, kein „Reggae in Wulf“ bei Friedberg, kein „Singoldsand“ in Schwabmünchen, kein „Puls“ auf Schloss Kaltenberg und auch keines der vielen anderen, kleineren Festivals. Weil Corona eine stetig weiter wachsende, dabei heiß um Stars und Wochenendtermine konkurrierende und inzwischen auf weit über 400 Events allein in Deutschland kommende Branche auf Null gesetzt hat. Nichts. Und das ausgerechnet im Jubiläumsjahr von „Rock im Park“, dem 25.

    Da könnte man ja sagen: Pandemiepech. So wie bei anderen eben auch. Zumal es gerade bei den Großen der Zunft ja längst um Millionen geht, Künstler- und Besucherströme international sind und auf Festivals wie „Rock im Park“ auch schon eigene Supermarkt-Filialen und Riesenräder aufgebaut werden. Nicht gerade besondere Kunsthandwerker-Schicksale also. Aber das ändert ja nichts daran, dass es den Zehn-, den Hunderttausenden, den Millionen, die hier alljährlich in allen Farben feiern, viel bedeutet.

    Einmal die Frage in Facebook eingestellt, was denn nun fehlt, wenn die Festivals fehlen, antwortete etwa Caro Wenderlein Ende Mai: „Rock im Park, Rammstein und Summer Breeze … – in ’ner Woche wär’s losgegangen zur besten Zeit des Jahres. Mir fehlt einfach die unbeschwerte Zeit mit Freunden, einfach mal drei Tage komplett abschalten, raus aus dem Alltag und einfach nur Spaß und eine gute Zeit haben … Das ist einfach ein ganzes Lebensgefühl, das nun fehlt.“ Oder Caro Mäkinen: „Rock im Park, With Full Force, Summer Breeze und Wacken… Auf den Festivals kommen alle zusammen und man hat dort die Möglichkeit, mit allen gemeinsam unbeschwert zu feiern. Das bricht dieses Jahr leider komplett weg. Und das ist – neben den kulturellen Aspekten der Konzerte an sich – wohl das Bitterste.“

    Oder Jonny Renner: „Für mich fällt weg: Modular, Southside, Summer Breeze, Reggae in Wulf, Singoldsand … Festivals sind einfach das pure Sommer- und Freiheitsgefühl, und das fehlt einfach krass!“ Amelie Kruse wäre zum „Modular“, „Puls“ und „Singgoldsand“ gegangen – „einfach Tage zum Entspannen und Genießen“ –, Matthias Schuster zur „Brass Wiesn“, Patrizia Ketterle zu „Tollwood“ und „Reggae in Wulf“: „Vor allem Reggae in Wulf werd ich vermissen! Es ist für mich wie ein Urlaub wie in ’ner anderen Welt …“ Und dazwischen hat sie haufenweise Emojis mit gebrochenen Herzen und heulenden Gesichtern gepackt.

    Bei "Rock im Park" wird aus dem SAP-Projekt-Manager ein Profi-Fan, eine Institution

    Holger Strichau alias Balu, Profi-Fan von den Parkrockern („PR“).
    Holger Strichau alias Balu, Profi-Fan von den Parkrockern („PR“). Foto: Strichau

    Wer’s genauer wissen will, fragt Balu. Denn der ist eine Art Profi-Fan, eine Institution bei „Rock im Park“, und wird, so wie ihm freilich das Festival fehlt, auch irgendwie selbst an diesem Wochenende in Nürnberg fehlen. Normalerweise hätte Balu sich wie jedes Jahr schon am Donnerstag um 19 Uhr mit seinen hundert Freunden auf dem da bereits fürs Camping eröffneten Gelände getroffen – denn Balu, immer in einem seiner sechs gelben T-Shirts mit Namensaufdruck, und seine aus ganz Deutschland angereisten Freunde sind weit mehr als ein gewöhnlicher Feierkreis. Sie sind die „Parkrocker“, betreiben mit parkrocker.net ein ehrenamtliches Fanforum mit allen Informationen zum Festival. Hier ballt sich wie im vergangenen Jahr schon mal der Ärger über fehlende und kaputte Toiletten, was die „Parkrocker“ dann bei den Verantwortlichen anbringen. Inzwischen vergeben sie auch alljährlich einen eigenen Umweltpreis auf dem Festival. Und Balu ist so etwas wie ihr Häuptling, auch wenn er im durchschnittlich deutlich jüngeren Haufen schon mal „Forums-Opa“ genannt wird.

    Eigentlich heißt er Holger Strichau, stammt aus Köln und hat mal in Nürnberg-Erlangen studiert. Seitdem ist er dem Park treu verbunden, auch wenn er heute 52 ist, sonst ein hochseriöses und ernsthaftes Leben im Anzug als SAP-Projekt-Manager führt und mit Frau und zwei Stieftöchtern im Raum Stuttgart wohnt.

    Warum dann noch jedes Jahr „Rock im Park“? Man kann wohl sagen: Es ist Liebe, es ist eine Heimat für jenen Balu, der immer auch noch im Herrn Strichau steckt, der früh schon aus Leidenschaft zum Musik-Fachmann wurde, mit breitem Spektrum, der elektronische Musik im Erlanger E-Werk auflegte – und dann lieben lernte, was es so auf normalen Konzerten eben nicht gibt. „Es ist hier alles entspannter, die Leute passen aufeinander auf, es herrscht eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit“, erklärt er. Wie eine Riesengroßfamilie, die sich im Ausnahmezustand befindet, Auszeit vom Alltagsleben nimmt und sonstige Tagesabläufe und Konsumgewohnheiten weit hinter sich lässt.

    Natürlich kann sich Balu auch noch an musikalische Höhepunkte all der Jahre in Nürnberg erinnern, an Konzerte von Moby, den White Stripes oder Tool etwa. Und natürlich geht Holger Strichau schon auch mal auf andere Festivals, das „Southside“ oder „Highfield“, auch mal bis zum siebentägigen „Sziget“ in Budapest. Aber der Höhepunkt des Jahres, sein zweites Zuhause, ist hier, wo er Veranstalter und Security persönlich kennt und auf dem Festivalgelände inzwischen auch selbst als „der Balu!“ erkannt wird. Wo er jedes Jahr ist, ganz egal, welche Bands in welchem Jahr kommen. Wo er immer im gleichen Hotel wohnt an diesem ersten Juni-Wochenende. Weil ja, das ändert sich dann doch, Zeltplatz muss es nicht mehr sein – dafür hätte er dieses Jahr erstmals die 16-jährige Stieftochter mitgenommen. Typisch, oder?

    Große Konzerte und Festivals werden wohl als letztes wieder stattfinden können

    Das Festivalfieber scheint sich jedenfalls gut 50 Jahre nach der Geburt in Woodstock weiter in die nächste Generation zu vererben. Der Schwerpunkt des Publikums liegt nach wie vor bei den unter 25-Jährigen. Und so aktualisiert sich auch Festivalkultur immer neu. Ehemaliger Kult wie der, „Helga!“ rufend übers Gelände zu laufen, in Nachahmung eines vor vielen Jahren seine Partnerin suchenden Mannes, ist praktisch vorbei.

    Die heutige Riesengroßfamilie bespaßt sich dafür allzeitvollvernetzt und spielt ansonsten bei jeder Gelegenheit und auf allen Wegen „Flunkyball“ oder „Bier-Pong“ – launiger Biertrinksport und jetzt aber mal wirklich: typisch! Wie gleich daneben die meist älteren Sammler von deren leeren Dosen fürs Pfand. Und um diese Pittoresken herum ein hochtechnisches System, das die Lenkung von Zuschauermassen zur Vermeidung von gefährlichen Stauungen und Engstellen organisiert.

    Bloß, dass da nun, in diesem Sommer 2020, nichts zu organisieren ist. Vereinzelte Biertrinker vielleicht, dazu Spaziergänger sicher, Ersatzfeiernde mit mobilen Soundanlagen wohl eher nicht – selbst die Corona-Patrouille könnte wohl ohne Beanstandung über das Festivalgelände fahren an diesem Wochenende. Auch Balu und seine „Parkrocker“ verzichten aufgrund der Auflagen auf ein eigenes, internes Trotzdem-Treffen. Nach der Festival-Absage hat Holger Strichau sich vielmehr dieses Wochenende für sein Alltagsleben reserviert und den geplanten Umzug vorgezogen. Aber natürlich eben auch gleich das Hotel fürs nächste Jahr gebucht: Erstes Juni-Wochenende 2021, dann 26 Jahre „Rock im Park“. Oder?

    Der amerikanische Bioethiker und Professor für Gesundheitsmanagement, Zeke Emanuel, der auch die Regierung berät, sagte kürzlich der New York Times, er glaube nicht, dass Großkonzerte und vor allem auch Festivals wo auch immer vor Herbst 2021 stattfinden werden: „Ich denke, diese Dinge werden die letzten sein, die zurückkehren.“ Balu sieht das anders. Und sagt: „Ich bin da sehr zuversichtlich.“

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