Ist das die Lösung im Kampf gegen Covid? Wer das Gelände des Filmfestivals von Venedig betreten will, den empfangen Polizisten mit halbautomatischen Waffen. Andere Beamte kontrollieren Taschen oder messen die Temperatur. Letzteres wird an anderen Checkpoints wiederholt. Im Foyer des Hotels Excelsior, einem der Hotspots des Events, tummeln sich phasenweise mehr Sicherheitskräfte als akkreditierte Gäste und Besucher.
Auch wenn ein Teil der Maßnahmen einer diffusen Terrorangst geschuldet ist, man hat tatsächlich den Eindruck, als würde man sich in einer Hochsicherheitszone bewegen. Während sich in den Gassen von Venedig Touristen ohne Maske aneinander vorbeidrängen, ist im gesamten Terrain des ältesten Filmfestivals der Welt Gesichtsbedeckung Pflicht. Und das, obwohl die Zahl der Teilnehmer so reduziert ist, dass zwischen den einzelnen Personen im Schnitt gefühlt 100 Meter Abstand besteht. Vorführungen dürfen nur noch mit drei Tagen Vorausbuchung besucht werden. Zwischen den maskierten Zuschauern ist mindestens ein Sitz Abstand.
Derlei Nervosität ist natürlich wohl begründet. Denn Venedig ist das erste große Filmfestival der Welt, das in den Virenzeiten mit Besuchern stattfindet, während etwa die Kollegen in Telluride oder Toronto dieses Jahr auf reguläre Ausgaben verzichten und auch Cannes die Segel streichen musste. Ein Superspreading-Event kann sich die gebeutelte Branche, die immer noch unter einem eingeschränkten Kinobetrieb leidet, nicht leisten.
Weniger Stars bei den Filmfestspielen in Venedig
Gleichzeitig braucht man dringend ein positives Zeichen. Zumal in einem Jahr, in dem das Publikum lernen musste, ohne das große Filmerleben auszukommen. Pedro Almodóvar, der in Venedig seinen Kurzfilm „The Human Voice“ präsentierte, formulierte es bei einer Konferenz als direkte Forderung an das Pressekorps: „Sagen Sie den Leuten, dass sie ins Kino zurückkehren.“ Festivalchef Alberto Barbera stilisierte die Bemühungen um das Leinwanderlebnis gleich zu einer „Schlacht für die Zivilisation und die Kultur“.
Die Waffen, die Venedig dafür lieferte, sind bislang nicht von absoluter Durchschlagskraft, was freilich auch den Beschränkungen der Pandemie geschuldet ist. Das beginnt bei dem Faktor, der derartigen Veranstaltungen ihren Nimbus verleiht. Denn die Präsenz strahlkräftiger Besucher ist stark eingeschränkt. Eine Demi Moore oder Penélope Cruz sollen zwar im Auftrag eines Sponsors den Reiz des Kinos vermitteln, tun das aber nur aus der digitalen Distanz. Andere Prominenz wie Helen Mirren, Andrew Garfield oder Frances McDormand fliegen gar nicht erst ein, um ihre Projekte vorzustellen. Auch eine Greta Thunberg vermied die klimaneutrale Zugfahrt nach Venedig, obwohl dort eine relativ ansehnliche Dokumentation über ihre Person lief.
Wer tatsächlich seinen Kopf hinhielt und sich physisch einstellte, das waren respektierte Veteranen wie Charles Dance („Game of Thrones“) oder sogenannte ‚Shooting Stars‘ wie Vanessa Kirby („The Crown“), die mit zwei viel beachteten Filmen ihr großes Festivaldebüt feierte. „Jurymitglieder wie Cate Blanchett oder Ehrenpreisträgerin Tilda Swinton spazierten hinter meterhohen Absperrungen über den roten Teppich. Der Plebs – sprich: die Fans, die bei früheren Festivals stundenlang auf ihre Idole warten – blieb ausgesperrt.
Netflix und Hollywood haben keine Filme ins Rennen geschickt
Da musste man den Mut eines Oliver Stone bewundern, der sich bei der Präsentation seiner Autobiografie einem weitgehend unmaskierten Publikum stellte und danach von Teilnehmern umlagert wurde. Was auch nur möglich war, weil dieser Termin in der unabhängigen Nebensektion ‚Giornate degli Autori‘ außerhalb des Festivalgeländes stattfand. Und da herrschte denn schon wieder halbe Anarchie.
Doch das überzeugendste Argument für die Macht des Kinos sind nicht dessen Akteure, sondern seine Produkte. Sinnigerweise ist der Lieferant einiger der größten Venedig-Erfolge der letzten Jahre auch einer der großen Gewinner der Krise. Netflix, dessen „Roma“ oder „Marriage Story“ ihren Siegeszug am Lido begannen, hält sich indes 2020 von den Festivals fern. Das klassische Hollywood, das hier zuletzt Starvehikel wie „Ad Astra“ oder „A Star is Born“ ins Rennen schickte, wagte sich gar nicht erst über den Großen Teich.
So wirkt denn die Zusammenstellung in diesem Jahr zwangsläufig etwas bescheidener. Das spiegelt sich schon im Eröffnungsfilm, dem ambitionierten, aber letztlich nicht tiefergehenden italienischen Ehedrama „Lacci“ wider. Das Genre publikumsträchtiger Unterhaltung wird durch die britische Komödie „The Duke“ repräsentiert, in der – nach einer wahren Geschichte – ein britischer Rentner (spielfreudig-vital: Jim Broadbent) einen Goya aus der National Gallery stiehlt, um mehr Sozialleistungen für seinesgleichen zu erzwingen.
Ein Grieche hat einen allegorischen Film über eine Pandemie gedreht
Mit seinem emotional abgründigen Beziehungsdrama „Pieces of a Woman“ bietet der Ungar Kornél Mundruczó seiner Hauptdarstellerin Kirby eine perfekte Plattform und zeigt nebenher seine technische Raffinesse, indem er eine Fehlgeburt in einer einzigen, fast 30-minütigen Einstellung dreht. Es gibt sogar einen allegorischen Film über eine Pandemie – „Mila“, das stilsichere und hoch originelle Debüt des Griechen Christos Nikou. Für ein dokumentarisches Highlight sorgt Luke Hollands „Final Account“, eine Collage aus beklemmenden Interviews mit den letzten überlebenden Tätern und Mitläufern des Holocaust. In den nächsten Tagen wird auch noch der deutsche Wettbewerbsbeitrag, Julia von Heinz’ Thrillerdrama über eine Anti-Aktivistin „Und morgen die ganze Welt“, zu sehen sein.
Sind das alles Streiter der Armada, die das cineastische Erlebnis retten soll? Dafür wirkt Venedig 2020 bislang eher noch wie eine Vorhut. Aber immerhin ist der Anfang gemacht. Jetzt darf nur Hollywood seinen internationalen Kollegen nicht bei diesem Feldzug hineinpfuschen. Während des Festivalbeginns wurde bekannt, dass sich Robert Pattinson beim „Batman“-Dreh infizierte. So gesehen hätte man dort das Sicherheitsregiment vom Lido gut gebrauchen können.
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