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Augsburger Puppenkiste: Ein Roman über die Anfänge der Puppenkiste

Augsburger Puppenkiste

Ein Roman über die Anfänge der Puppenkiste

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    Der Schriftsteller Thomas Hettche nimmt es bei seiner Erzählung mit der Zeit und den Personen genau, erlaubt sich aber dennoch Freiheiten.
    Der Schriftsteller Thomas Hettche nimmt es bei seiner Erzählung mit der Zeit und den Personen genau, erlaubt sich aber dennoch Freiheiten. Foto: Joachim Gern

    Herr Hettche, Sie sind 1964 geboren. Wie stark hat die Augsburger Puppenkiste Ihre Kindheit geprägt?

    Thomas Hettche: Sehr! Es gab die amerikanischen Serien wie „Raumschiff Enterprise“, „Flipper“ und „Die rauchenden Colts“. Und es gab die Puppenkiste. Ich erinnere mich genau, wie sehr mich fasziniert hat, dass die Puppenkiste etwas ganz anderes als diese Serien war.

    Können Sie sich noch an Ihr erstes Puppenkiste-Abenteuer im Fernsehen erinnern?

    Hettche: Lustigerweise bedeuteten damals, in der Zeit des „linearen Fernsehens“, drei oder vier Jahre Altersunterschied, dass für einen als Kind jeweils eine andere Serie prägend wurde. Bei mir waren es das Urmel und Kalle Wirsch.

    Ist Ihnen überhaupt aufgefallen, dass diese Puppen an Fäden hängen?

    Hettche: Genau das war es ja, was die Puppenkiste so faszinierend machte! Ich sah die Fäden und die starren hölzernen Gesichter und wusste natürlich, dass das nicht „echt“ war, und dennoch gruselte ich mich bei Kalle Wirsch und fieberte mit. Wenn im Urmel der Seeelefant sang, fühlte ich seine Einsamkeit im Meer und sah zugleich, dass dieses Meer nur eine Plastikfolie war. Durch diese Gleichzeitigkeit bekam ich als Kind eine Ahnung davon, wie der Zauber von Geschichten entsteht.

    Wann war Ihnen klar, dass Sie über die Puppenkiste einen Roman schreiben wollen?

    Hettche: Vor drei Jahren erzählte mir jemand bei einem Abendessen zum ersten Mal von Hannelore Oehmichen. Sofort stiegen meine Kindheitserinnerungen an die Marionetten wieder auf, die sie alle geschnitzt hatte. Von dem Moment an wollte ich wissen, wie meine Erinnerungen und ihr Leben zusammenhängen. Ich hatte eine Ahnung, dass das viel über unser Land erzählen könnte.

    Sie haben Hannelore Marschall-Oehmichen, die am 16. Mai 2003 starb, also nicht mehr kennengelernt. Wer war dann Ihre Hauptquelle für die vielen persönlich-familiären Details in Ihrem Buch? Ihre Söhne Klaus und Jürgen Marschall? Oder andere?

    Hettche: Als erstes habe ich Kontakt mit Klaus Marschall aufgenommen und ihm von meinem Projekt erzählt. „Herzfaden“ ist ja einerseits ein Roman, andererseits die Geschichte einer Familie, weshalb mir seine grundsätzliche Zustimmung wichtig war. Und dann habe ich lange mit Ulla Döllgast gesprochen, der Schwester Hannelore Oehmichens, die mir sehr dabei geholfen hat, die Kindheit der beiden Schwestern möglichst genau in den Blick zu bekommen.

    Wie finden Sie sich in eine vergangene Zeit ein? Woher nehmen Sie die Bilder, den Sound, das Lebensgefühl?

    Hettche: Ich habe mich zunächst einmal eine ganze Weile in Augsburg herumgetrieben, um ein Gefühl für die Stadt zu zu bekommen. Dann habe ich mir Texte, Bilder, Musik etc. aus der Zeit angesehen, in der die Geschichte spielt. Wir haben ja alle Vorstellungen von der Nazi-Zeit, vom Krieg, von den zerstörten Städten und dem Wiederaufbau im Kopf, aber um ein vergangenes Leben wirklich lebendig werden zu lassen, muss man diese Vorstellungen an den ganz konkreten Umständen überprüfen und sich in unzählige Kleinigkeiten verbeißen, um herauszubekommen, wie etwas exakt gewesen ist. Dabei hat mir unter anderen auch Herr Treffer geholfen, Ihr Kollege aus dem Zeitungsarchiv, bei dem ich mich auf diesem Weg gern noch mal bedanken möchte. Und was die Puppenkiste angeht, hatte ich das Glück, mich mit Matthias Böttger austauschen zu können, einem Experten für ihre Geschichte.

    Sie begnügen sich nicht mit der Faktenebene: Wie spüren Sie die Geschichten hinter der Geschichte auf?

    Hettche: In einem Roman ist das gar nicht zu trennen. An den historischen Tatsachen entzündet sich mein Erzählinteresse, das dann über die Fakten hinausführt und diese dabei verändert. So nimmt es „Herzfaden“ mit der Zeit und den Personen, die der Roman porträtiert, einerseits sehr genau, andererseits ist er Fiktion. Insofern gibt es keine „Geschichte hinter der Geschichte“, sondern nur die Wirklichkeit der Erfindung.

    Was gibt Ihnen die Sicherheit, dass Sie mit Ihren Deutungsmustern für die Beweggründe der Akteure richtig liegen?

    Hettche: Die Sicherheit habe ich nicht und um sie geht es auch gar nicht. Das, was man als Schriftsteller „aufspürt“, wie sie sagen, ist keine gesicherte Erkenntnis, sondern eine mögliche Wirklichkeit. Ein Roman ist ein erfundener Schlüssel zu einer Vergangenheit, die einem ansonsten verschlossen bliebe. Das kann gelingen oder auch nicht. Aber wir haben keine Alternative: Um zu wissen, wer wir sind, müssen wir uns das, was war, immer wieder von neuem erzählen.

    Lüften Sie bitte das Geheimnis um den „Herzfaden“, den es nicht wirklich gibt, der aber doch wirkt!

    Hettche: Von Walter Oehmichen, dem Vater von Hannelore, ist der Satz überliefert: „Wir wackeln mit einem toten Stück Holz!“ Er konnte das sagen, weil er um die Magie wusste, die jeder kennt, der einmal eine Marionette in der Hand hatte. Dieses tote Stück Holz wird nämlich lebendig. Mit Marionetten erleben wir auch heute noch einen uralten und zutiefst menschlichen Zauber: Dass wir etwas beseelen können. Dazu braucht es diese Wundermaschine Marionette mit ihren Fäden. Aber es braucht auch uns als Zuschauer, die wir bereit sind, uns wie Kinder zu öffnen. Wenn wir das zulassen, spannt sich plötzlich der Herzfaden von uns zu diesem toten Stück Holz.

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