Am Mittwochabend beginnt das Münchner Dokumentarfilmfest 2021, wieder als ausschließlich digitales Format. Haben Sie sich daran schon gewöhnt?
Daniel Sponsel: Vor einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass alles genau wieder so kommt. Wir haben lange ein duales Format geplant, aber vor fünf Wochen mussten wir doch wieder aufs Digitale einschwenken.
Dieses Jahr kämpft der Dokumentarfilm um seinen guten Ruf, seit „Lovemobil“ wegen schwerer handwerklicher Fehler in der Kritik steht und die Regisseurin die Preise zurückgeben musste. Wie angeknackst ist sein Image?
Sponsel: Dass durch diesen einzigen Film das ganze Genre in Mitleidenschaft gezogen worden ist, finde ich sehr bedauerlich. Indem sie handelnde Personen durch schauspielernde Stellvertreter ersetzte, hat die Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss in „Lovemobil“ die ungeschriebenen Gesetze des dokumentarischen Arbeitens gravierend gebrochen, und niemand als sie wird mehr bereuen, die Methoden der Herstellung dieses Films nicht offengelegt zu haben. „Lovemobil“ ist sehr ästhetisch und sehr nah dran. Das ist eigentlich gar nicht möglich in so einem (Rotlicht-)Milieu, in dem der Film sich bewegt.
Festivalleiter David Sponsel: "Lovemobil" sieht einfach gut aus
Welche Aussagekraft haben nach diesem Vorfall noch Auszeichnungen? „Lovemobil“ trug immerhin den Deutschen Dokumentarfilmpreis 2020 und war für den Grimmepreis nominiert.
Sponsel: "Lovemobil" sieht einfach gut aus. Der Film agiert in einer bestimmten Art des Dokumentarfilms, die der allgemeinen Entwicklung der Medienökonomie entspricht. Es wäre gut, wenn wir ein bisschen herunterkommen von dem Anspruch, der in den letzten Jahren gewachsen ist seitens des Publikums, der Redaktionen und Filmemacher. Wir haben beim Dokumentarfilm ein ziemlich hohes Niveau erreicht. Wir sollten uns nicht daran gewöhnen, dass ein Dokumentarfilm so ästhetisch und so nah dran sein kann. Im Festival haben wir auch ganz andere Filme im Programm.
Interessiert Filmpreis-Juroren nur das Ergebnis auf der Leinwand oder auch der gesamte Prozess der Entstehung eines Dokumentarfilms?
Sponsel: Oft haben wir das Problem, dass man in dem Festivalprogramm Äpfel mit Birnen vergleichen muss – Filme, die völlig unterschiedliche Machart haben, völlig andere filmische Ansätze. Jede Art ist anerkannt, hat ihre Notwendigkeit, macht Sinn. Doch sind sie teilweise schwer miteinander vergleichbar. Da muss die Jury ihren eigenen Weg finden. Sie hat höchste Qualität zu bewerten in einem Wettbewerb. Das ist immer sehr spannend.
Sie treffen die erste Auswahl. Wovon lassen Sie sich bei der Auswahl der Festivalfilme leiten?
Sponsel: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Filme, die haben ein unglaublich relevantes und wichtiges aktuelles Thema, sind aber vielleicht filmisch nicht so stark wie andere. Dann gibt es Filme, die sehr eigen sind, die sehr ästhetisch sind und filmisch auf sehr hohem Niveau erzählen. Bei der Vorauswahl finden wir einzelne Begründungen, warum wir diese Filme nehmen. Wir haben 131 Filme im Programm, da ist es möglich, Diversität hineinzubringen. Nicht alle Filme werden mit dem gleichen Auge gesehen.
Lehnen Sie auch Titel aus Qualitätsgründen ab?
Sponsel: Wir haben knapp 1100 Einreichungen und wir zeigen nur etwas mehr als zehn Prozent. Sie können sich vorstellen, dass viele ausscheiden – aus verschiedenen Gründen.
Was erwarten Sie von einem Dokumentarfilm? Was unterscheidet ihn von einem aktuellen Nachrichtenbeitrag?
Sponsel: Die Journalisten haben den Auftrag zu informieren, und ein Dokumentarfilmer hat den Anspruch, die Wirklichkeit zu interpretieren. Es gibt ein Bonmot: Die Dokumentarfilmer kommen dann, wenn die Journalisten gerade gehen. Ein Dokumentarfilm ist eine Autorenleistung. Die Filmemacher sehen eine interessante Wirklichkeit, kennen einen interessanten Menschen, und darüber möchten sie erzählen. Es ist dann ihre kreative Leistung, wie ihr Blick auf diese Person, diese Welt im Film stattfindet. Ein Dokumentarfilm braucht viel Zeit und muss genauer hingucken.
Ein Dokumentarfilm ist also auch ein filmisches Risiko? Man weiß am Anfang bestimmt nicht so genau, was am Ende herauskommt, welches Material man bekommt.
Sponsel: Absolut. Das ist ja auch die Geschichte von „Lovemobil“. Frau Lehrenkrauss hatte lang in dem Milieu recherchiert und hatte schon Material mit echten Protagonisten. Aber das fiel dann nicht so aus, wie sie gedacht hatte. Dieses Risiko hat man immer. Man weiß nie, was passiert mit den Leuten während des Drehens. Es kann jemand auf halber Strecke aussteigen, weil er das nicht mehr möchte. Vielleicht ist man auch am falschen Tag am falschen Ort und kann dann nicht drehen. Ein Dokumentarfilm ist immer Arbeiten ins Offene. Da kann man nicht mit einer vorgefertigten Idee kommen, wie der Film am Ende aussieht; so darf man nicht drehen. Es können auch ganz andere Dinge geschehen.
Der Filmschnitt lenkt den Blick in eine bestimmte Richtung
Wie viel kann allein der Schnitt die Wahrheit der Bilder beeinflussen?
Sponsel: An der Wahrheit der Bilder kann der Schnitt nicht so viel verändern. Aber das gedrehte Material steht im Verhältnis von 1:100 gegenüber dem fertigen Film. Schnitt lässt auf jeden Fall Bilder weg, er verdichtet und lenkt den Blick in eine bestimmte Richtung. Oder die Filmemacher fügen ein Bild hinzu an einer Stelle, sie wollen ja eine Erzählung daraus machen. Dazu haben wir im Dok.forum eine Veranstaltung, die Ergebnisse einer Umfrage über die Arbeitsbedingungen beim Schnitt vorstellt. Erstmals verleihen wir einen mit 5000 Euro dotierten Preis, der die Montageleistung würdigt: den Dok.edit Award.
Ein Element im Dokumentarfilm ist das Interview. Der Regisseur schaltet sich selbst ein und befragt ganz gezielt die Wirklichkeiten. Manipuliert er?
Sponsel: Das Interview ist eine Kategorie des Dokumentarfilms. Es wird längst nicht in jedem Film verwendet, aber in vielen. Mit dem Interview haben Sie die Chance, dort, wo im Spielfilm der Dialog ist, von den Protagonisten den O-Ton zu kriegen – die eigenen Worte zur eigenen Befindlichkeit, die Information über Vorgänge und Verhältnisse. Je nachdem, wie Sie fragen, geht’s in die eine oder andere Richtung. Es ist eine Art der Interpretation dieser Wirklichkeit, die auch die Geschichte ein bisschen lenkt.
Wie subjektiv darf die Warte eines Dokumentarfilms sein?
Sponsel: Das entscheidet jeder Regisseur, jede Regisseurin für sich. Subjektivität ist möglich, wo sie im Film nachvollziehbar ist. Es findet auch ein Dialog vonseiten des Publikums mit dem Film statt, und die Zuschauer fragen sich: Wie würde ich das sehen? Teile ich diese Sichtweise? Oder widerspreche ich ihr?
Welche dramaturgischen Mittel darf der Dokumentarfilm einsetzen, ohne seine Glaubwürdigkeit und Authentizität aufs Spiel zu setzen? Sind auch nachgestellte Szenen erlaubt?
Sponsel: Jeder Dokumentarfilm beruht auf Absprachen. Das Filmteam ist ja nicht zufällig an einem Ort. Man hat sich verabredet und man fragt: Darf ich da noch eine zusätzliche Lampe hinstellen, darf ich die Möblierung umstellen. Damit beginnt ja schon der Eingriff in die Wirklichkeit, das ist auch in Ordnung. In dem Moment, wo die Person, die ich als dokumentarisch präsentiere, eine andere spielt, muss ich das klar benennen. Es gibt gute Beispiele von Filmen, die eine solche Mischform gut hinbringen, etwa Heinrich Breloer mit seinem Reenactment von dokumentarischem Material. Das ist legitim und wird auch in seriösen Filmen gemacht.
Das Programm des Dokumentarfilmfestivals unter www.dokfest-muenchen.de; dort kann man auch den Festivalpass (70 Euro) sowie Einzeltickets online erwerben.
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