In Corona-Zeiten kommt selbst ein Riesenkonzern wie Disney ins Schwitzen. Denn neben den vielen Kinos in der weiten Welt sind in den USA auch die meisten Freizeitparks geschlossen, die einen erhebliche Teil des Umsatzes des Mouse-House-Imperiums ausmachen. Hinzu kommt, dass Disney zahlreiche Blockbuster-Produktionen für teures Geld in der Pipeline hat, die nun nicht mehr in gewohnt globaler Manier eingespeist werden können.
Christopher Nolans "Tenet" hat sich mutig auf den veränderten Kinoweltmarkt vorgewagt und kann auf respektable Einspielergebnisse blicken. Im Hause Disney ist man vorsichtiger. Während die X-Men-Fortsetzung "New Mutants" in der nächsten Woche nach langem Hin und Her in die Kinos gebracht wird, verlagert man den Start von "Mulan", der ursprünglich auf den 29. März terminiert war, nun auf die hauseigene Streaming-Plattform Disney +, wo der Film zunächst nur sogenannten VIP-Abonnenten für schlappe 21,90 im Monat zu Verfügung steht.
Im Fall des mageren "Artemis Fowl" konnte man diese Streaming-First-Politik noch verstehen. Aber nach der Sichtung von "Mulan" bei einer Pressevorführung im Kino Anfang März und später noch einmal auf dem heimischen Fernseher lässt sich eines mit Gewissheit sagen: Dieser Film gehört auf die Leinwand und nicht aufs Tablet. Nicht nur weil Regisseurin Niki Caro in der Realverfilmung des Trickfilmklassikers sichtbar auf visuelle Überwältigung setzt, sondern auch weil diesem "Mulan" eine besondere Rolle im Disney-Kanon zukommt.
Disney hat mit Mulan sein Frauenbild geändert
Seit Schneewittchen 1937 mit dem Putzlappen in der Hand fröhlich tirilierend die Zwergenbude auf Hochglanz polierte, haben die Disney-Prinzessinnen Generationen von Mädchen und deren weibliches Rollenverständnis geprägt. In Filmen wie "Cinderella" (1950) und "Dornröschen" (1959) regierte noch ein traditionelles Frauenbild, das von Passivität und Erlösungsbedürftigkeit gekennzeichnet war.
Deutlich verspätet gönnte man Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre den Heldinnen in "Arielle, die kleine Meerjungfrau" (1989), "Die Schöne und das Biest" (1991) und "Pocahontas" (1995) erste vorsichtige Selbstfindungsprozesse jenseits überholter Geschlechterstereotypen. Aber erst mit "Mulan" (1998) drang in einem Disney-Trickfilm die weibliche Protagonistin direkt in eine Männerdomäne ein, um sich die eigene Gleichberechtigung zu erkämpfen. Die Mütter, deren Töchter heute die toughe Eiskönigin Elsa in "Frozen" frenetisch bejubeln, sind mit dieser Mulan durch dick und dünn gegangen – einer Heldin, die sich als Mann verkleidet in die chinesische Armee einschleicht, zur tapferen Kriegerin reift und das Kaiserreich vor einfallenden Hunnenhorden rettet.
Nun hat Disney in der Me-Too-Ära die Zeichen der Zeit erkannt, um den Stoff noch einmal neu aufzulegen. In den letzten Jahren hat das Unternehmen seinen Trickfilmfundus mit Remakes im Realfilmformat einer lukrativen Zweitverwertung zugeführt. Aber in "Mulan" wirkt die Neuinterpretation grundlegender und geht über eine bloße Aufhübschung hinaus.
Regisseurin Caro setzt mit "Mulan" voll auf epische Dramatik
Während die Trickfilmvorlage die Emanzipationsgeschichte konsequent komödiantisch auflockerte, setzt Regisseurin Caro mit ihrem "Mulan" voll auf epische Dramatik. Der kleine, chaotisch Drache Mushu ist genauso aus dem Konzept gestrichen worden wie sämtliche Musical-Einlagen.
In der Eingangssequenz, wenn die kleine Mulan ein Huhn in bester Martial-Arts-Manier über die Dächer verfolgt, herrscht noch fröhliches Chaos. Aber schon wenige Minuten später steigt der Film mit der Zurechtweisung des Vaters (Tzi Ma) direkt in die Materie ein. "Dein Qi ist stark" sagt dieser nicht ohne väterliche Bewunderung zu Mulan, um zerknirscht hinzuzufügen: "Aber Qi ist für Krieger, nicht für Töchter. Bald wirst du eine junge Frau sein und es ist an der Zeit, dass du lernst deine Begabung zu verstecken".
Aber das will Mulan (gute Wahl: Yifei Liu) auch ein paar Jahre später beim Besuch der Heiratsvermittlerin nicht gelingen. Ihr Qi und ihre Kampfkunstreflexe sind zu stark, um sie hinter der Fassade von Anstand und Wohlgefallen zu verbergen. Als schließlich die Abgesandten des Kaisers im Dorf auftauchen und der invalide Vater in den Krieg ziehen soll, folgt sie ihrer eigenen Berufung. Mit beiden Händen hebt Mulan das Schwert des Vaters vom Schrank und zieht die Klinge heraus, auf der in chinesischen Schriftzeichen "loyal, mutig, wahrhaftig" eingraviert ist. Die Kampfbewegungen, mit denen sie die Waffe durch die Luft wirbelt, lassen keinen Zweifel daran, dass das Schwert zu ihr gehört und sie nun statt des Vaters in den Krieg ziehen wird.
In "Mulan" ergänzen sich poetische Landschaftsaufnahmen mit sorgfältig choreografierten Kampfkunstspektakeln
Ohne Pathos, aber in einer klaren, symbolischen Bildsprache zeigt Caro diesen Moment weiblicher Ermächtigung. Der Weg Mulans, die sich zunächst im Ausbildungslager als Mann ausgibt, hin zu einer Kriegerin, die sich auf dem Schlachtfeld auch als Frau Anerkennung verschafft, ist weit und beschwerlich. Wie eine chinesische Jeanne d’Arc sieht sie in der Rüstung ihres Vaters aus, die sie in einem zweiten Akt der Befreiung schließlich von sich wirft, um nach Loyalität und Mut nun auch die geforderte Wahrhaftigkeit zu erlangen.
Wenn es darum geht, die Dramatik der Geschichte zu verstärken, zeigt Regisseurin Caro keine Angst vor großen Gesten und befindet sich damit in bester Disney-Tradition, wo Plakativität stets zum guten Erzählton gehörte. Aber hier fügt sich alles bestens zusammen, weil die Regisseurin durchgehend mit einer kraftvollen Visualität arbeitet, in der poetische Landschaftsaufnahmen, epische Schlachtengemälde und sorgfältig choreografierte Kampfkunstspektakel einander ergänzen.
Deutlich düsterer als das Original präsentiert sich die Realverfilmung. Dazwischen sind es die Feinheiten, die den Unterschied ausmachen. War es im Trickfilm der breitschultrige Kommandeur, in den sich Mulan vorsichtig verliebte, so ist es hier ein gleichrangiger Soldat, dem sie romantisch auf Augenhöhe begegnet. Auch die Beziehung zwischen Mulan und ihrem Vater gewinnt in der Modernisierung an Tiefe, weil der Konflikt zwischen der Liebe zur Tochter und den patriarchalen Zwangsvorstellungen deutlich ausgebaut wird. Diese gelungene Balance zwischen epischer Wucht und der Aufmerksamkeit gegenüber den Details zeichnet Caros Film als echtes Kinoereignis aus, das seine Wirkung im Streaming-Format nur unvollständig entfalten kann.
Mulan, USA, 2020, 115 Min., R: Niki Caro D: Yifei Liu, Tsi Ma, Li Gong, läuft auf Disney + mit VIP-Zugang für 21,99 Euro. Ab 4.12. Zugang auch für reguläre Disney+-Abos
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