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Gesellschaft: Die ganze Welt dreht sich um Ich

Gesellschaft

Die ganze Welt dreht sich um Ich

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    Und hinter tausend Selfies keine Welt? 
    Und hinter tausend Selfies keine Welt?  Foto: stock.adobe.com

    Als Filippo Brunelleschi die Gesetzmäßigkeiten einer mathematisch konstruierbaren, schließlich auch auf der Leinwand reproduzierbaren, realistisch anmutenden Perspektive entdeckte, konnte er noch nicht ahnen, was das Ganze dereinst mit Kim Kardashians Hintern zu tun haben könnte. Und doch steht beides beispielhaft für einen Epochenbruch in der Wahrnehmung von Welt.

    Zur Erinnerung: Mithilfe der Zentralperspektive gelang es den Malern der Renaissance, auf einer zweidimensionalen Fläche den Eindruck von Tiefe entstehen zu lassen, vor allem aber: Sie setzten den Betrachter mithilfe imaginär über das Bildwerk hinausreichender Fluchtlinien zentral ins Geschehen, machten aus ihm damit ein beobachtendes, die Welt von seinem Standpunkt heraus wahrnehmendes Subjekt. Zuvor, in der auf das Jenseits angelegten Goldgrund-Welt des Mittelalters, gab es davon nur eines, nämlich (den nicht selten eben auch als allsehendes Auge dargestellten) Gott.

    Diese Subjekt-Werdung des Menschen ist jedenfalls ein dickes Ding gewesen. Sie markiert – neben anderen revolutionären Entwicklungen (wie dem Buchdruck etc.) – den Beginn der (frühen) Neuzeit, ist Ausgangspunkt für das, was später einmal in Aufklärung und Kants berühmten „Sapere aude!“ mündete: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Und auch in die Vorstellung des Menschen als Individuum. Und nun?

    Der Blick geht zurück auf sich selbst

    Wie gesagt ein anderes dickes Ding, nämlich Kim Kardashian, jenes It-Girl, das mit seinem Hintern einige Berühmtheit erlangte und ähnlich wie etwa Paris Hilton (womit die berühmt wurde, ist mir gerade entfallen) und all die anderen „Promis“ die Welt fürderhin mit Selfies bombardierte und diesen Trend mit beförderte, endgültig zum Massenphänomen machte. Was aber bei diesem Schnappschuss seiner Selbst passiert, ist eigentlich eine erneute Umkehrung der Perspektive: Statt als erkennendes Subjekt in die Welt zu schauen, richtet sich nun der Blick zurück und auf einen selbst. Es ist auch ein Stück weit eine Abkehr von Welt, der – wie man ständig und an allen Sehenswürdigkeiten beobachten kann – buchstäblich der Rücken zugewendet wird: Man fotografiert nicht eine Kirche, einen Brunnen, Schloss, sondern sich selbst vor Kirche, Brunnen, Schloss, die somit zum Hintergrund, reiner Kulisse, Fototapete gerinnen, vor der ein Ich sich in Szene setzt. Und hinter tausend Selfies keine Welt.

    Am wichtigsten aber – und das macht dieses Phänomen eben auch zum Ausdruck einer weiteren epochalen Verschiebung – ist die Tatsache, dass aus einem Subjekt wieder ein Objekt wird, man sich selbst zu einem solchen macht. Und das hat auch viel mit der vorherrschenden Vorstellung von Individualisierung zu tun.

    Der mündige Mensch, der Bürger als Individuum mag ja wie erwähnt ein Ziel der Aufklärung gewesen sein – aber ein Individuum ist kein statisches Ding, wie jeder aus seiner Lebenserfahrung weiß. Mit anderen Worten: Individualität kann gesteigert werden. Was zunächst einmal mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi als ganz normaler Prozess beschrieben werden kann, „der im Laufe der gesellschaftlichen Modernisierung dazu geführt hat, dass Individuen ihre Entscheidungen zunehmend als individuelle Entscheidungen erleben und dass die Gesellschaft erwartet, dass das Leben in gewissermaßen individueller Verantwortung geführt wird“, gerät – so scheint es momentan – jedoch zunehmend zu einem Imperativ.

    Und das in jeder Hinsicht: Eben einmal jener der weiter anwachsenden Selbstverantwortlichkeit – über den Erhalt der Gesundheit bis hin zur Altersvorsorge –, weil Staat und Gesellschaft dafür Wille und/oder Ressourcen fehlen; einmal aber auch jener der Selbstoptimierung und Eigeninszenierung. Das Individuum ist in Zeiten des Neoliberalismus mehr denn je seines Glückes Schmied und im Zweifelsfall selbst schuld, jedenfalls: Mach was draus! Was umso mehr gilt, als dass in den mal mehr, mal weniger postindustriellen, westlichen Gesellschaften Fähigkeiten an Bedeutung gewinnen, die man vormals eher in gesellschaftlichen Nischen verortet hatte: Zum Beispiel Kreativität, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, wie der französische Soziologe Luc Boltanski („Der neue Geist des Kapitalismus“) bereits 1999 ausführte.

    Damals tanzte man noch zu „Die ganze Welt dreht sich um mich“, Falcos bemüht ironischen Kommentar auf eine hedonistische Ego-Gesellschaft, den diese gleichwohl in jedem drittklassigem Klub und nicht nur vom schlechten Caipirinha berauscht mitgrölte. Heute muss es allerdings eher heißen: Die ganze Welt dreht sich um Ich. Um unzählige Ichs, die sich in Stellung bringen, im Wettbewerb stehen.

    Ein Akt purer Selbstdarbietung

    Denn es wäre ein grobes Missverständnis, und um wieder auf die „Selfiesierung der Gesellschaft“ zurückzukommen, dass es sich dabei um ein Symptom der Selbstverliebt- und Selbstbezogenheit handelt. Vielmehr geht es um einen Akt der buchstäblichen Selbstdarbietung (als wäre man ein Schnitzel), der so erst mit Aufkommen des Internets und der sozialen Medien möglich wurde. Und damit auch nötig.

    Die Präsentation des Selbst, das Akkumulieren von Klicks, das immer mehr geforderte Inszenieren von Einzigartigkeit offenbart hier seinen Marktcharakter – und erzeugt nur umso mehr Rauschen, gegenüber dem sich abgehoben werden muss. Das gelingt natürlich nur in Maßen, so wie es bereits tausendfach geteilte Selfie-Schminktipps gibt, Inszenierungsmuster sich wiederholen und der Individualisierungs-Zwang im Straßenbild beispielsweise ja auch so etwas Uniformiertes wie den Hipster hervorgebracht hat, also jenen Typus, den man – auch das ein Wettbewerbsvorteil in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (der Soziologe Andreas von Reckwitz) – sofort als urbanen, kreativen, polyglotten Menschen auf der Höhe der Zeit erkennen soll.

    Doch genau um dieses Erkennen geht es ja, besser gesagt: das Erkanntwerden. Von Objekten. Waren. Uns.

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