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Rezension: "Der vergessliche Riese": David Wagner für Bayerischen Buchpreis nominiert

Rezension

"Der vergessliche Riese": David Wagner für Bayerischen Buchpreis nominiert

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    Schriftsteller David Wagner
    Schriftsteller David Wagner Foto: Linda Rosa Saal, Rowohlt

    Ein Vater und ein Sohn unterhalten sich. Der Vater lebt in Meckenheim bei Bonn, ganz in der Nähe des Bundeskriminalamtes, „gut bewacht“, wie er sagt, der Sohn aber in Berlin. Jahrelang haben beide nur wenig Kontakt miteinander gehabt; der Vater war beschäftigt mit Leben und Liebe, der Sohn auch. Nun aber ist der Vater allein, seine zweite Frau gestorben, und er beginnt immer mehr zu vergessen. Was er eben gesagt hat, ob er gegessen hat, was er gegessen hat, wohin er fährt, woher er kommt, dass seine Frau nicht mehr am Leben ist. Die Nachricht ihres Todes muss der Sohn immer wieder von neuem überbringen. „Nun ist mir schon die zweite Frau weggestorben. Ich muss ja schwer auszuhalten sein“, sagt der Vater und der Sohn erwidert: „Nein, eigentlich bist du ganz gut auszuhalten. Alle sind immer gern mit dir zusammen.“

    „Der vergessliche Riese“, so hat David Wagner sein Buch genannt, das über weite Teile nur aus Dialogen zwischen Vater und Sohn besteht, in dem einzelne Sätze wie Zeilen aus einem Refrain wiederkehren. Und in dem man ein wenig über das Leben des Vaters erfährt, wenig über das des Sohnes – aber viel darüber, was bleiben kann, wenn einem Menschen das meiste entschwindet. Der Augenblick und, so pathetisch es auch klingen mag, die Liebe.

    Der Sohn nimmt den Vater an der Hand

    Auch diesmal schreibt Wagner wieder nah an seiner Biografie. In seinem 2013 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Werk „Leben“ erzählte er über seine Autoimmunkrankheit und die rettende Lebertransplantation. Diesmal, in dem nun für den Bayerischen Buchpreis nominierten Werk, wird der demenzkranken Vater zur literarischen Figur. David Wagner, so heißt auch der Sohn im Buch, nimmt nun im Rollentausch den Vater an der Hand, führt ihn im Gespräch durch dessen Leben. „Du kennst Dich in meinem Leben jetzt also besser aus als ich?“, fragt der Vater. So ist es.

    David, den der Vater immer als „Freund“ anspricht, erzählt ihm von seiner ersten Ehe, von der zweiten, zeigt ihm seine alte Arbeitsstätte in Bonn, fährt ihn durch den früheren Wohnort Andernach, füllt die Lücken, wenn sich welche auftun – wenn er sich aufraffen kann. Im versandenden Erinnerungsstrom des Vaters treiben für den Sohn kostbare Fundstücke: „Deine Mutter hatte die schönsten Füße. Ich glaube, ich habe mich zuerst in ihre Füße verliebt.“ Ein anderes Mal ist alles eingetrübt. Steht der Vater mit dem Sohn vor dem Grabstein, sagte eben noch: „Sie war eine schöne Frau. Und so stark.“ Und fragt im nächsten Moment: „Welche Frau liegt hier noch mal?“ – „Ach, Papa. Lies halt den Namen“.

    Der Vater, der Riese, schrumpft jeden Tag ein wenig mehr

    War da mal ein Groll? Wäre da nicht eigentlich noch etwas zu klären wegen der langen Zeit, in der sich der Vater recht wenig für das Leben seiner Kinder interessierte? Die Krankheit nimmt alles Stachelige aus der Beziehung. Der Riese, der den kleinen David früher auf die Schultern setzen konnte, der alles wusste, sich viel erlaubte, kann sich ja auch nicht mehr wehren, schrumpft jeden Tag ein wenig mehr. Aber klingt zumindest noch immer klug. Und er weiß um seine Krankheit, zitiert immer wieder die selige Tante Gretl mit dem Satz: „Die Dublany sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd.“ Und der Vater versucht dem Sohn zu erklären, was ihm gerade widerfährt, beschreibt seine eigenen Ausfälle: „Oft weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich weiß. Ich spüre, da ist etwas, kann es aber nicht greifen – als ob etwas in mir immer wieder ins Leere fassen würde...“

    Es sind viele gleichtönende Gespräche, die da Vater und Sohn führen, die aber den Leser dennoch nicht ermüden. Die ständigen Wiederholungen entfalten so etwas wie einen ganz eigenen Rhythmus, vertiefen den Moment. Ein Refrain folgt dem anderen. Das Auto, der Rost, wie der Motor im ersten Jahr kaputt ging, das Auto, der Rost, wie der Motor … und ja, das Auto, der Rost... Aber: Weil die Vergesslichkeit auch alle Schutzwälle porös werden lässt, die einer im Leben aufbaut, um sich dahinter auch mal zu verstecken, sind dann auch Gespräche möglich, die Vater und Sohn so noch nie geführt haben. Und damit eine ganz neue Nähe.

    Ein Gesellschaftspanorama derBonner Wohlstandsrepublik

    Es sind in den vergangenen zehn Jahren etliche Bücher zum Thema Demenz erschienen, darunter auch Arno Geigers autobiografisch geprägtes „Der alte König in seinem Exil“. Was diese beiden über das Thema hinaus verbindet: So, wie der Österreicher Geiger seinen König einen Helden bleiben lässt, so lässt auch Wagner seinen Riesen einen Helden bleiben – einen liebenswürdigen, galanten alten Herrn, der schließlich sein letztes Zuhause, eine Wohnung in einem luxuriösen Altenheim bezieht. Der Sohn fühlt sich dennoch schäbig. Aus Bruchstücken fügt er für den Vater dessen Biografie zusammen und zeichnet dabei aus diesen Bruchstücken auch ein Gesellschaftspanorama der alten Bonner Wohlstandsrepublik. Was man nicht alles vergessen hat!

    Das liest sich nicht sentimental, nicht beschönigend, sondern berührend – und manchmal auch wunderbar komisch: „Weißt du, ich vergesse alles.“ – „Nicht alles, Papa. An einige Dinge erinnerst du dich ganz gut.“– „Ja, ich weiß noch, wie ich heiße. Und wann ich geboren bin. Und wann du geboren bist.“ – „Wann denn?“ – „1966?“ – „Falsch …“

    Info David Wagner: Der vergessliche Riese. Rowohlt, 269 Seiten, 22 Euro

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