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Debatte: Juli Zeh, Corona und die Gesundheitsdiktatur

Debatte

Juli Zeh, Corona und die Gesundheitsdiktatur

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    Literatin, Philosophin, Volljuristin – und Kritikerin der Corona-Maßnahmen: Juli Zeh.
    Literatin, Philosophin, Volljuristin – und Kritikerin der Corona-Maßnahmen: Juli Zeh. Foto: Soeren Stache, dpa

    „Wann wird der Begriff der ‚Gesundheitsdiktatur‘ von der Polemik zur Zustandsbeschreibung?“ Mit dieser Frage wirbt der Verlag für das neue Buch von Juli Zeh. Und nein, es ist sicher kein Zufall, dass hier die Brücke zur Gegenwart geschlagen wird mit der Verheißung einer Klärung: Inwieweit ist der Vorwurf der gegen die Corona-Beschränkungen Demonstrierenden also gerechtfertigt, dass hier vorsätzlich Grundrechte kassiert wurden und damit die freiheitliche Demokratie in Gefahr ist? So was sorgt natürlich für Aufmerksamkeit! Bloß, was hat Juli Zeh damit zu tun?

    Tatsächlich hat sich die deutsche Star-Autorin selbst ja sehr kritisch zu den Maßnahmen der Regierung geäußert. Und das mit Hintergrund. Denn die 45-Jährige hat nicht nur mit sehr erfolgreichen Romanen wie zuletzt dem als ARD-Serie verfilmten „Unterleuten“ und auch „Leere Herzen“ immer wieder gesellschaftspolitische Fragen behandelt – sie meldet sich zudem mit Essays immer wieder direkt in Debatten zu Wort und blickt dabei als studierte Philosophin und Volljuristin (inzwischen im Rang einer ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht Brandenburgs) mit reichlich kritischem Sachverstand auf aktuelle Entwicklungen. Immer mit dem Fokus: Schutz der Freiheit.

    Juli Zeh hätte sich eine Kommission zu Beginn der Krise gewünscht

    Und das bedeutete in diesem Fall, dass sie etwa im Interview mit der Süddeutschen beklagte: „Im Grunde schüchtert man die Bevölkerung ein, in der Hoffnung, sie auf diese Weise zum Einhalten der Notstandsregeln zu bringen. Die Ansage lautet sinngemäß: Wenn ihr nicht tut, was wir von euch verlangen, seid ihr schuld an einer weiteren Ausbreitung des Virus und an vielen Toten in den Risikogruppen!“ Gewünscht hätte sich Juli Zeh jedenfalls zu Beginn der Krise eine Kommission zur Beratung des richtigen Vorgehens und der gründlicheren Prüfung einer Strategie der Herdenimmunität. So seien jedenfalls zu schnell und zu bereitwillig Grundrechte und bürgerliche Freiheiten eingeschränkt worden.

    Doch die Autorin betonte – vom Spiegel mit Kollegen wie dem Philosophen Julian Nida-Rümelin und dem Virologen Alexander Kekulé zu einem Promi-Team der Öffnungsbefürworter vereint – zugleich auch: „Wir haben es in Deutschland meines Erachtens nicht mit gezielten Angriffen auf die Gültigkeit unseres Grundgesetzes unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung zu tun.“ Vielmehr erlebten wir „eine Form von orientierungsloser Geringschätzung gegenüber unserer Verfassung, was ich fast genauso schlimm finde“. Juli Zeh, verheiratet, Mutter, in der brandenburgischen Pampa lebend und SPD-Mitglied, zeigt sich als Mahnerin vor fahrlässigen Beschädigungen und Warnerin vor politisch übergriffigem Moralisieren. Von einer Gesundheitsdiktatur aber: kein Wort.

    Die Autorin befragt sich in einem Interview selbst

    Doch dann ist da eben dieses neue Buch. An sich schon merkwürdig, wenn nicht einzigartig bizarr: Darin erklärt die Autorin in einem über 200-seitigen Interview mit sich selbst eines ihrer eigenen Werke, entlang von Fragen, die ihr immer wieder von Lesern des rund 400.000 mal verkauften und auch zum Abiturstoff gewordenen Buches gestellt worden seien. „Fragen zu Corpus Delicti“ heißt das neue Werk – und darin geht es tatsächlich um eine Gesundheitsdiktatur, die sie im Roman 2009 entworfen hat. Allerdings werden hier als politisches Heilsprogramm mithilfe der hochtechnischen „Methode“ die Körperdaten aller Bürger vermessen und damit das Verhalten jedes Einzelnen auf die höhere Vernunft des Besten für die Gemeinschaft geeicht.

    Anne Ratte-Polle (als Mia Holl) und Christoph Luser (als ihr Bruder Moritz) proben 2007 in Essen eine Szene aus dem Theaterstück "Corpus Delicti".
    Anne Ratte-Polle (als Mia Holl) und Christoph Luser (als ihr Bruder Moritz) proben 2007 in Essen eine Szene aus dem Theaterstück "Corpus Delicti". Foto: Bernd Thissen, dpa

    Es ist eine geradezu klassische Dystopie von der in der großen Mehrheit freudig begrüßten Aufgabe von Freiheit und Mündigkeit wie „1984“ und „Schöne neue Welt“ – und nicht von ungefähr in den Antworten im Buch etwa andockend an Wirkliches wie das chinesische Sozial-Punkte-System.

    Kein Diktatur-Szenario für Deutschland, nirgends

    Was aber die Verhältnisse in Deutschland angeht, stellt Juli Zeh in „Fragen zu Corpus Delicti“ klar: „Ich möchte nicht das Entstehen einer Diktatur vorhersagen. Ich kann es nicht ertragen, wenn medial ständig vom Ende der Demokratie gesprochen wird. Ich bin keine Apokalyptikerin, sondern möchte immer wieder darauf verweisen, wie glücklich wir uns schätzen können, in einer freiheitlichen Gesellschaft zu leben. Wie wichtig es deshalb ist, diese Privilegien zu erkennen und zu verteidigen, statt sie aufgrund irgendwelcher politischer Launen leichtfertig über Bord zu werfen.“ Das ist das eine Wesentliche in diesem merkwürdigen Buch, erschienen zu einem merkwürdigen Zeitpunkt, aber gerade interessant, weil es schon länger geplant gewesen sein und nun eben nicht passend zu den gegenwärtigen Debatten aus dem Hut gezaubert worden sein soll. Jedenfalls: Kein Diktatur-Szenario für Deutschland, nirgends!

    Das zweite Wesentliche ist das politische Umgehen mit Fragen der Gesundheit. Zeh schreibt: „Politik ist das, was alle angeht, und der Rest geht nur den Einzelnen etwas an. Mein Problem mit Gesundheitspolitik besteht also vor allem in der Verallgemeinerung oder Veröffentlichung eines eigentlich höchstprivaten Lebensbereichs. Mit anderen Worten: Es spricht nichts dagegen, wenn sich der Einzelne intensiv um seine Gesundheit kümmert. Aber es spricht viel gegen einen Staat, der beginnt, sich übermäßig mit der Gesundheit seiner Bürger zu befassen.“ Aber der entscheidende Satz lautet: „Regulierung, die das Privatleben betrifft, muss auf unvermeidliche Fälle wie den Schutz vor akuten Seuchen vorbehalten bleiben.“ Also, wenn dann doch, in Fällen wie Corona! Was bleibt, ist das, was die Autorin selbst so beschreibt: „Das Ringen um den richtigen Weg ist kein Problem des demokratischen Systems, sondern sein Wesen.“ Also: Mehr Debatte bitte!

    Das geschriebene Wort ist klüger als das gesprochene

    So ist trotz des merkwürdigen Erscheinens das geschriebene Wort eben auch bei einer Juli Zeh klüger als das in Interviews gesprochene. Da raunte sie nämlich: „Was mir Angst macht, ist die Erkenntnis, wie wenig wir als demokratische Gesellschaft mit Krisensituationen umgehen können. Wie schnell wir zu angstgetriebenen Entscheidungen bereit sind, wie kopflos auch unsere gewählten Politiker agieren, wenn sie gleich die Verantwortung an ,Berater‘ abgeben, statt besonnen im Sinne der Demokratie zu agieren.“ Es war April, einen Monat, nachdem die verantwortlichen Politiker innerhalb weniger Tage zu entscheiden hatten, weil sonst alle Erkenntnisse eine mit weiterem Warten nur noch steiler ansteigende Infektionskurve erwarten ließen – und damit eine ernstliche Gefahr für das Gesundheitssystem. Besonnen?

    Klingen geschriebene Sätze der Autorin, die man mit aus der Krise nehmen kann, um Lehren daraus zu ziehen, wie dieser: „Sicherheit bedeutet nicht, dass jede Form von Risiko eliminiert werden muss.“ Oder dieser: „Wenn Politiker wie Nannys auftreten und die Bürger wie bedürftige Kinder behandeln, müssen sie sich nicht wundern, auf Dauer von ebendiesen Bürgern nicht mehr ernstgenommen zu werden.“

    Aber um in der ja selbstgebotenen Besonnenheit die Eingangsfrage auf dieses neue Buch anzuwenden: Lediglich in Bezug auf die Fiktion ist die Gesundheitsdiktatur Zustandsbeschreibung – in Bezug auf die Wirklichkeit aber bleibt sie abseits der Werbung: Polemik. Gerade im Sinne der aufklärerischen Autorin, die Juli Zeh doch stets sein will.

    Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti. btb, 240 S., 8 Euro

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