Als der Schriftsteller Ingo Schulze neulich, kurz bevor das kulturelle und öffentliche Leben zu ersterben begann, in der noch offenen und ausverkauften Augsburger Stadtbücherei auftrat, sagte er einen klugen Satz: „Man kann durch das Lesen auch das Leben verfehlen.“ Eingeigelt in die Schönheit von Literatur übersieht man allzu leicht Probleme der Wirklichkeit.
Was aber, wenn nun kulturelles und öffentlichen Leben verschwinden, wenn die Wirklichkeit so beunruhigt und sich auf die eigenen vier Wände verengt? Dann ist es Zeit für den Trost durch Lesen. Also, auch wenn das derzeit oft ans Herz gelegt wird: Vielleicht gerade Seuchen-Literatur wie Albert Camus’ „Die Pest“ oder José Saramagos „Die Stadt der Blinden“ liegen lassen, auch den mörderischen Krimi, den tödlichen Thriller. Und sich stattdessen in die Schönheit und die Tiefe der Buchwelt fliehen.
Wer wegen des Coronavirus Zeit hat, könnte sich literarischen Großprojekten widmen
Zum Beispiel? Wer wirklich Zeit hat, könnte sich endlich literarischen Großprojekten widmen, die man immer mal gelesen haben wollte. Dostojewski- oder Siegfried-Lenz- oder Ken-Follett-Wälzer? Jeder hat Vorlieben und kennt seine blinden Flecke. Klassisch wäre, nicht nur wegen des Wortwitzes: Marcel Proust mit „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, sieben Bücher. Moderner: John Updike und seine fulminante „Rabbit“-Serie, fünf Teile. Fantastisch: Walter Moers und seine Zamonien-Romane, inzwischen acht.
Steht nicht im heimischen Regal? Bestellungen geliefert werden ja noch, übrigens meist auch von örtlichen Buchhandlungen. Aber vielleicht sollte man zuerst auch den eigenen Bestand sichten: Gab es da nicht immer schon Werke, die man noch mal lesen wollte? Oder Lieblingsbücher: Die enthalten auch so viel von der eigenen Geschichte, dass diese wieder zu lesen zugleich Flucht aus der Gegenwart und alles andere als ein Verfehlen des Lebens sein kann. Der beste Trost liegt ja vielleicht bei prekärem Draußen gerade in der Besinnung auf den inneren Reichtum. Und apropos Besinnung: Da wäre auch der alte Ernst Wiechert nicht schlecht, Titel: „Das einfache Leben“.
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