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Corona: Was die 68er-Bewegung mit der niedrigen Impfquote in Bayern zu tun hat

Corona

Was die 68er-Bewegung mit der niedrigen Impfquote in Bayern zu tun hat

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    Skepsis gegenüber dem Impfen hat im Alpenraum eine gewisse Tradition. Das beschäftigt auch die Forschung.
    Skepsis gegenüber dem Impfen hat im Alpenraum eine gewisse Tradition. Das beschäftigt auch die Forschung. Foto: Karl-Joef Hildenbrand, dpa

    Immer mehr Menschen infizieren sich mit dem Coronavirus. Obwohl eine Impfung schützen und den Krankheitsverlauf abschwächen kann, stagniert die Zahl der Injektionen in Bayern. Bisher sind rund 8.770.000 Menschen vollständig geimpft – das entspricht etwa 66 Prozent der Bevölkerung. Der schlechteste Wert unter den westlichen Bundesländern. Doch warum ist die Impfquote im Freistaat so niedrig?

    Historiker Malte Thießen beschäftigt sich mit der Geschichte der Seuchen und dem Einfluss der Corona-Pandemie. In der Geschichte der Pandemien und ihrer Bekämpfung seien Parallelen zur heutigen Situation erkennbar. „Das Impfen war im 19. Jahrhundert ein neues Verfahren“, sagt

    In Bayern und Sachsen gibt es eine starke Tradition der Esoterik

    Der Historiker erklärt: „Der Freistaat wollte zeigen: Wir schützen euch und werden unserer Fürsorgepflicht gerecht.“ Es entstanden Impfzentren wie die große königliche Impfanstalt in München. Ausgehend von der Stadt versuchte die Regierung in die Provinzen vorzudringen – was zu Problemen führte. Ländliche Regionen sahen die Moderne als Einbruch in ihre natürliche Welt. „Das Impfen war eine Projektionsfläche für die Spannungen zwischen dem Staat und der Provinz“, sagt Thießen.

    Einen Grund für die heuer niedrige Impfquote in Bayern sieht der Historiker darin, dass es besonders in Süddeutschland, also in Bayern und Baden-Württemberg, aber auch in Sachsen eine starke Tradition der Esoterik und der Anthroposophie gab. Letzteres bedeutete „Weisheit des Menschen“ und gründet auf den Lehren von Rudolf Steiner, der unter anderem die Waldorfschulen gründete. Steiner betonte die Freiheit des Menschen, der sich allen Formen der Bevormundung entziehen solle, um einen ganz eigenen Zugang zu Phänomenen der übersinnlichen Welt zu erlangen.

    Schon im 19. Jahrhundert formierten sich Impfgegner

    Thießen erklärt: „Im 19. Jahrhundert sprach man von der Lebensreform, die die natürliche Lebensweise propagiert, um gegen die Schädigungen der Moderne geschützt zu sein. Sie waren Grundlage für eine starke Impfkritik, die sich breitmachte.“ Die Reformbewegung, die in Süddeutschland, aber auch Schweiz und Österreich viele Anhänger hatte, wirke auch heute noch nach in Gegenden, die Vorbehalte gegen Impfung hätten.

    Schon damals formierten sich die Impfgegner, als 1874 das Reichsimpfgesetz für Pockenimpfungen beschlossen wurde. „Nach Schätzungen gab es Anfang des 20. Jahrhunderts 320.000 organisierte Impfgegner und Impfgegnerinnen, die in Vereinen Stimmung gegen Impfungen gemacht haben“, berichtet Thießen. Der Markt an gefälschten Impfausweisen florierte.

    Damals hatte die Impfpflicht das Ziel, dass sich mehr Menschen impfen lassen. Doch änderte sich dadurch nicht die Einstellung der Menschen, die sich partout nicht piksen lassen wollten. Also setzte der Staat auf niederschwellige Angebote und Vorteile für die Impflinge.

    „Es hilft, den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen, aber es muss auch aufgeklärt werden“

    Zu den Corona-Protesten in Deutschland, Österreich und der Schweiz forscht der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey. Alle drei Länder haben aktuell die niedrigste Impfquote in Westeuropa. Bisher haben die Untersuchungen gezeigt, dass in den Protestmilieus Anthroposophie, Esoterik und antiautoritäres Denken häufig zusammen auftreten. „Als Folge der 1968er-Bewegung haben sich Alternativmilieus gebildet“, erklärte Nachtwey im Interview mit der österreichischen Tageszeitung Standard.

    Es ging um Esoterik und Spiritualismus, Kinder kamen auf Waldorfschulen und alternative Medizin lag im Trend. Nachtwey sagt zur aktuellen Situation: „Es geht in diesen Strömungen vor allem um eine Form von Ganzheitlichkeit, Selbstverwirklichung und Körpersouveränität.“ Das Impfen werde nun als autoritärer Eingriff des Staates wahrgenommen.

    Historiker Malte Thießen findet, dass man für die Pandemie eine Lehre aus der Geschichte ziehen kann: „Es hilft, den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen, aber es muss auch aufgeklärt werden. Menschen wollen selbstständig mit einer guten Wissensgrundlage entscheiden.“

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