Tipp 1: "Das Echolot" von Walter Kempowski - Größe und Abgrund des Menschen
Im "Echolot" von Walter Kempowski zu lesen, ist, als ob man Berge von Schuhkartons mit alten Briefen, Schränke voller Tagebücher und mit Schriftstücken vollgestopfte Schubladen durchstöberte und käme an kein Ende. Ein Gewirr von Stimmen und Schicksalen. Und für uns Lesende die Erkenntnis, dass, obwohl alle in der gleichen Lage sind, jeder anders erlebt, fühlt, hofft und bangt; sich Menschen in Illusionen flüchten oder in Lügen; Menschen stark sind oder feige. Kempowski (1929–2007) hat mit seinem kollektiven Tagebuch "Das Echolot" ein Wunder geschaffen: In insgesamt zehn Bänden versammelt der Spurensicherer hunderte Stimmen, die zusammen einen Chor ergeben, wie es noch keinen gab.
Aus Tagebüchern, Briefen, Zeitdokumenten und Fotografien collagiert er ein vielschichtiges, perspektivenreiches Bild – nein, natürlich nicht der Corona-Krise, sondern der Kriegsjahre 1943 bis 1945. Auf tausenden Seiten zitiert Kempowski Prominente und Unbekannte, Exilanten und Bürokraten, Intellektuelle und einfache Leute. Dieses einzigartige Lesebuch ist komponiert aus tausenden Einzeltexten – chronologisch, authentisch, unkommentiert. Wer im "Echolot" gelesen hat, weiß (fast) alles über die Abgründe und Größe des Menschen. (Michael Schreiner)
Tipp 2: "Der Distelfink" von Donna Tartt - Literatur kann Herzen brechen
Es kann einem mit Büchern bekanntlich gehen wie mit Menschen. Man verliebt sich. Und wenn man danach fragt, warum, wird niemand sagen: oh, es war der edle Charakter oder Ähnliches. Sondern vermutlich ein Detail, irgendeine kleine erste Beobachtung nennen. Bei Menschen wie bei Büchern. In dieses Buch kann man sich spätestens auf Seite 1022 verlieben. Erstmals das Herz aber bricht es einem vermutlich schon früher. Wenn Theo, die Hauptfigur in Donna Tartts Roman "Der Distelfink", seine Mutter bei einem Terroranschlag im Metropolitan Museum of Art in New York verliert, dort auf Anweisung eines älteren Herren das Bild "Distelfink" des Rembrandt-Schüler Fabritius mitnimmt und dann in der Wohnung vergebens wartet. Auf die Mutter, auf das normale Leben. Ab dann also muss sich der 13-Jährige durchschlagen, erst in der Familie eines Freundes, dann beim windigen Vater in Las Vegas, schließlich bei einem Antiquitätenhändler in New York...
Was ist das für ein Roman? Ach, alles. Krimi, Kunst-, Entwicklungs-, Bildungsroman. Er ist nicht perfekt. Es gibt eine wirkliche krude Räuberpostille. Aber dafür auch Sätze, die sind zum Heulen schön. Wovon er eigentlich handelt: Vom "Privileg, das zu lieben, was der Tod nicht anrührt." (Stefanie Wirsching)
Tipp 3: Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu - Ein Chinese führt durch die Galaxie
Ist das nun die Zeit für einen der großen klassischen Romankünstler wie Dostojewski, am größten in "Der Idiot"? Oder für einen zeitgenössischen Kult-Autor wie David Foster Wallace, virtuos postmodern in "Der unendliche Spaß"? Nein, am meisten wünschen wir uns doch in die Zukunft, in der die Viruskrise längst vorbei ist, oder? Doch wohin springen wir da? Eine umwerfende Antwort darauf stammt, kein Witz, aus China. Der Autor Cixin Liu hat in drei dicken Büchern eine Zukunftsvision entwickelt, die, wie jede gute Science-Fiction, viel mehr ist als spannend, fantasievoll, unterhaltsam.
In der Trisolaris-Trilogie gelingt zunächst der Kontakt zu einer fernen Spezies, deren Leben von den besonderen Problemen eines Planeten mit drei Sonnen bestimmt ist. Aber damit beginnt nur eine jahrhundertelange Reise, die auch zu erweiterten Physikkenntnissen und vor grundlegende logische und philosophische Fragen führt. Hard-Sci-fi nennt man das dann, was der mit diesen Büchern zum Weltstar der Branche avancierte Cixin Liu da macht – seine bis über die Grenze des bis dato Vorstellbaren hinaus gehende Fiktion nimmt es ernst mit der Wissenschaft. "Die drei Sonnen", "Der dunkle Wald", "Jenseits der Zeit" – ein wochenlanger Lesetrip! (Wolfgang Schütz)
Tipp 4: "Erfolg" von Lion Feuchtwanger - Machtpoker auf bayerische Art
Es ist nicht müde zu werden bei der Empfehlung dieses 800-Seiters, den nicht nur jeder Bayer – mit Lust – gelesen haben sollte. Weil in Lion Feuchtwangers Roman "Erfolg" die verdichtete Sitten-"Geschichte einer Provinz" in einem prallen Panorama entfaltet wird. Weil hier speziell die populären Lokalitäten Münchens und Oberbayerns gleichsam als Bühnenbild fungieren. Weil hier solche sympathischen Menschen wie Karl Valentin und solche dämonischen Wesen wie Hitler agieren. Weil hier das ganze tragisch-komische und heimliche Machtgeschiebe zwischen denen, die ihren Einfluss wahren wollen, und denen, die mit allen Mitteln an Einfluss gewinnen wollen, betrachtet wird – dieses Machtgeschiebe zwischen Politik und katholischer Kirche, zwischen Landesjustiz, Hochadel und Großindustrie. Und: Weil all das saftig und im Volkston von Lion Feuchtwanger aufgeschrieben ist: amüsant, ernst, lebenswirklich, menschelnd.
Wer dann aber den "Erfolg", 1930 erschienen, gerne gelesen hat – woran kaum gezweifelt werden darf –, der kann fortfahren mit den anderen beiden Bänden der sogenannten "Wartesaal"-Trilogie: "Die Geschwister Oppermann" sowie "Exil". Aber so satirisch wie im "Erfolg" geht’s dann nimmer zu, dann wird’s bitterernst. (Rüdiger Heinze)
Tipp 5: Das Nibelungenlied - Mit Helden in den Untergang
In Zeiten des kurz gewordenen Bewegungsradius schlägt die Stunde der epischen Länge und weshalb nicht gleich das Wort am Schopf packen und zu einem richtigen Epos greifen? Zum wohl berühmtesten aus deutschen Landen, dem Nibelungenlied, verfasst in der Zeit um 1200 von einem unbekannt gebliebenen Autor. Es ist die Sage vom feurigen Drachentöter Siegfried und der schönen Kriemhild, von Gunther dem Burgunden-König und seiner unrechtmäßig zur Frau erworbenen Brünhild, vom finsteren Hagen: Was als Helden- und Liebesgeschichte beginnt, mündet von Kapitel zu Kapitel – "Aventüren" genannt – in immer größere Verstrickung, in Heimtücke und Hass, bis zuletzt das Blut in Strömen fließt.
In 2400 Strophen gebracht, entwickelt das eine Wucht, wie sie nur den ganz großen Tragödien zu eigen ist. Wer eintauchen will in diese zunächst helle, dann zusehends sich verdüsternde Welt, wird sich wohl nicht gleich an das in mittelhochdeutscher Sprache geschriebene Original heranwagen. Aber es gibt wunderbare Übersetzungen, und in manchen Ausgaben sind die Originalverse parallel dazu gedruckt – mit ein wenig Übung ist das Mittelhochdeutsche durchaus lesbar. "Uns ist in alten mæren wunders vil geseit": Das stimmt hier aufs Wort! (Stefan Dosch)
Tipp 6: "Doctor Sleep" und "Shining" von Stephan King - Grusel und Grauen
Eigentlich ist der Horrorkönig an sich schon unheimlich: Stephen King hat einen Roman-Ausstoß, der seinesgleichen sucht. Jedes Jahr mindestens einen, häufig auch gleich zwei Grusel-Schinken, meistens mit über 500 Seiten, stets keine große Literatur, aber immer mitreißend geschriebene, irre Geschichten mit einer weltweiten Fangemeinde. Um sich in sein gesamtes Werk einzulesen, bräuchte man also ungefähr bis Weihnachten frei. Aber es reicht auch schon, in eine von Kings künstlichen Welten abzutauchen. Nehmen Sie also einfach "Doctor Sleep" (705 Seiten im Taschenbuch), und Sie werden Corona und den ganzen Quarantänewahnsinn garantiert während der Lektüre vergessen.
Denn das, was sich King da ausgedacht hat, ist noch viel irrer als unsere aktuelle Pandemie-Realität. In dem Roman fährt eine mörderische Seniorensekte mit Wohnmobilen durch die USA und macht Jagd auf besondere Kinder. Danny, der kleine Junge aus dem King-Welterfolg "Shining", tritt mit einer Verbündeten gegen sie an. Wenn Sie ganz viel Zeit und Lust auf Grusel und Grauen haben, können Sie auch gleich mit "Shining" loslegen – dann haben Sie ein 1300-Seiten-Leseprojekt vor sich und erfahren die atemberaubende Vorgeschichte aus Dannys Kindheit. (Lea Thies)
Tipp 7: "De bello gallico" von Gaius Julius Caesar - Gallier und Germanen
Endlich mal das Bücherregal gründlich abgestaubt. Ganz unten, hintere Reihe, dieses Tusculum-Bändchen entdeckt, schon ganz brüchig das Papier. Caesar: De bello gallico, der Gallische Krieg. Das haben wir doch im Lateinunterricht gelesen. "Gallia est omnis divisa in partes tres …" – langweilig. Geblättert, geguckt, und mich (auf Deutsch in der zweisprachigen Ausgabe) festgelesen. Aber schon so was von fest! Überhaupt nicht langweilig!
Natürlich interessiert mich auch heute nicht die Selbstbespiegelung eines Feldherren, der die gallischen und germanischen Stämme unterwerfen wollte. Aber was er damals, 50 Jahre vor der Zeitenwende, "über die in Gallien und Germanien herrschenden Sitten" schreibt, ist hochinteressant. Über gallische Sklaven und Ritter, über Druiden (ja, wie in "Asterix"!) und deren Volksunterweisung, über Götterverehrung. Und über die Germanen, deren ganze Lebensweise aus "Jagd und kriegerischem Treiben" besteht, die sich von "Milch, Käse und Fleisch" ernähren und stets auf "Strapazen und Abhärtung bedacht" sind. Zur Bekämpfung des Müßiggangs, stellt Caesar fest, würden sie gern Raubzüge unternehmen. Nicht gerade sympathische Gesellen. Aber spannend zu lesen! (Angela Bachmair)
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