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Interview: Cornelia Funke: "Jeder hat Ängste vor dem Fremden"

Interview

Cornelia Funke: "Jeder hat Ängste vor dem Fremden"

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    Cornelia Funke lebt seit 14 Jahren in Kalifornien und schätzt es, dass dort vieles anders ist als in den von Republikanern regierten Staaten der USA.
    Cornelia Funke lebt seit 14 Jahren in Kalifornien und schätzt es, dass dort vieles anders ist als in den von Republikanern regierten Staaten der USA. Foto: Uli Deck, dpa (Archiv)

    Frau Funke, bei einer Ihrer Lesungen haben Sie auf die Frage, wie Sie zu Ihren Stoffen kommen, geantwortet, Sie könnten jetzt sofort, hier auf der Bühne, zehn Geschichten erzählen. Welche Geschichten hören Sie denn hier in diesem ICE-Abteil?

    Cornelia Funke: Da müsste ich erst einmal mein Notizbuch herausholen. Wenn ich anfange zu schreiben, kommt es von selbst. Vielleicht würde ich erzählen, woher diese Weintrauben hier auf dem Tisch kommen und daraus eine Geschichte machen und dafür irgendwelche Winzlinge auf den Tisch setzen. Vielleicht würde ich aber auch eine ganz erwachsene Geschichte über Gisela, die Organisatorin der Lesereise, schreiben, die jetzt gerade über etwas Wichtiges nachdenkt. Es gibt tausend Möglichkeiten.

    Wenn Ihnen das so leichtfällt, dann ist es doch umso erstaunlicher, dass Sie für Ihr letztes Buch keine eigene Geschichte geschrieben haben. „Das Labyrinth des Fauns“ ist das Buch zu Guillermo del Toros Film „Pans Labyrinth“. Warum das?

    Funke: Das wäre auch nie passiert, wenn mich irgendein anderer Mensch auf der Welt gefragt hätte. Aber es gibt genau einen Menschen und einen Film, bei dem ich zustimmen musste. Man könnte sagen: Es war die unmöglichste Möglichkeit – und die ist passiert. Es war der Film, auf dessen Plakat ich zehn Jahre auf meine Schreibtischwand geblickt habe und das mir immer gesagt hat, das ist das, was Fantasy schaffen kann. Es ist ein unglaubliches Meisterwerk als Erzählung, als Film. Es spricht mich visuell und als Malerin an, und auch der politische Aspekt, diese Leidenschaft gegen Gewalt und Faschismus, bedeutet mir sehr viel. Das kam in meinen Büchern bisher nur als Thema, aber nie so konkret vor.

    Auch diese Brutalität des Films hat man in Ihren Büchern bisher nicht wahrgenommen.

    Funke: Ja, es gibt zwar einige sehr grausame Szenen in „Reckless“ und auch in „Tintentod“, aber ich habe noch nie Gewalt auf die Art beschrieben, wie Guillermo sie zeigt. Es hat mich beeindruckt, wie ehrlich und ungeschönt er sie zeigt, dass es mir sehr wichtig war, sie genauso abzubilden.

    Warum kam es Ihnen darauf an, diese Brutalität so genau und quälend zu schildern?

    Funke: Weil es deutlich macht, dass Gewalt entsetzlich und menschenzerbrechend ist und kein schöner Schleier darüber liegt. Gewalt wird so oft verherrlicht, verharmlost oder sogar als sexy verkauft. Bei del Toro ist es anders, man kann es kaum anschauen, und das musste ich ins Buch übertragen.

    Del Toros Stoff ist aber nicht nur ein sehr politischer, er verwebt auch, wie Sie es ja in Ihren Büchern ebenfalls tun, die Realität mit der Fantasy.

    Funke: Was ja beides dasselbe ist...

    Was bedeutet also Fantasy für Sie?

    Funke: Das kann man nur fragen, wenn man ein seltsames Verhältnis zur Wirklichkeit hat, oder? Unsere Wirklichkeit ist ja so fantastisch, dass man ihr nur mit Fantasy näherkommt. Was ist denn zum Beispiel die Wirklichkeit in diesem Zugabteil?

    Die Holzwände, die lederbezogenen Sessel, fünf Menschen, die hier sitzen.

    Funke: Das ist die Oberfläche. Aber: Das Holz, wo kommt das Holz her? Das war mal ein lebender Baum. Das Leder ist die Haut von Tieren. Der Tisch – Moleküle, die gerade wild vor sich hinschwirren. Sie selbst, fast aus denselben Bausteinen gemacht wie die Sitze, auf denen wir gerade sitzen. Die Fliege an der Wand sieht Sie gerade ganz anders, nämlich in Zeitlupe. Das ist die Wirklichkeit. Wir sitzen auf einem Planeten, der sich um einen Feuerball dreht. Das ist die Wirklichkeit. Über uns am Himmel explodieren ferne Sonnen. Das ist die Wirklichkeit. Wir sind so gut darin, nur unsere unmittelbare menschengemachte Realität wahrzunehmen und alles, was daran kratzt, auszublenden, einschließlich unserer eigenen Sterblichkeit. Fantasy ist ein Mittel, über all die Schichten unserer Wirklichkeit zu reden, denn unsere Welt ist wahrhaft fantastisch in ihrer unendlichen Komplexität. Der Zuckerguss ist das, was wir oft Wirklichkeit nennen, die Fantasy handelt von der Torte darunter. Fantasy liefert die Substanz der Welt.

    So sehen das aber viele Menschen nicht. Die Fantasy als ernst zu nehmendes Genre der Literatur hat es ja eher schwer.

    Funke: Vor allem in Deutschland ist das so. Weil die Deutschen Angst vor dem Fantastischen haben, seit die Faschisten all unsere Mythen, all unsere Märchen benutzt haben. Ich glaube, dass in

    Und Schriftsteller wie Michael Ende sahen sich dann dem Escapismus-Vorwurf ausgesetzt.

    Funke: Absurd. Da gibt es das wunderbare Tolkien-Zitat dazu: „Wer hat denn etwas gegen die Flucht außer dem Kerkermeister.“ Nur wenn wir uns andere Welten vorstellen können, können wir diese Welt in Frage stellen!

    Dazu gibt es ja Anlass genug. Man muss nur an Donald Trump und Amerika denken, wo Sie seit 2005 leben?

    Funke: Nur in Amerika? Nationalismus und Rassismus sind ein globales Problem, das sieht man am Rechtsruck in Italien, am Brexit in Großbritannien oder der AfD in Deutschland. Dagegen müssen wir uns alle aktiv wehren. Es ist falsch, die Ängste der Menschen den Rechten zu überlassen. Das ist ein Versäumnis der Linken. Jeder von uns hat diese Ängste vor dem Fremden, das sollten wir zugeben. Aber warum ich persönlich mit der politischen Situation in Amerika noch gut zurechtkomme, liegt daran, dass ich in Kalifornien lebe.

    Wie meinen Sie das?

    Funke: Kalifornien wird auch der „Out of Control-State“ genannt. Wir haben im Moment dutzende von Prozessen gegen die Regierung im Weißen Haus laufen, das heißt, wir haben unsere eigenen Gesetze, was Umweltschutz, Gleichberechtigung, Immigration angeht. In Kalifornien ist die Politik in vielem anders als in den von Republikanern regierten Staaten der USA.

    Sie haben also auf jeden Fall vor, in Amerika zu bleiben?

    Funke: Das ist mein Zuhause.

    Woran machen Sie das fest?

    Funke: Da gibt es ein schönes Zitat: „Home is where you feel the most“ und „Home is where you want to die“. Das stimmt beides. Ich glaube, wir alle haben eine Landkarte mit den Orten, an denen Teile unseres Lebens warten, die wir verpassen, wenn wir uns nicht bewegen.

    Was schätzen Sie am Leben in den USA?

    Funke: Ich liebe es an Amerika, dass es dort immer noch unberührte Wildnis gibt. Ich möchte nicht mehr in einer reinen Kulturlandschaft leben. Ich schätze die Mitmenschlichkeit der Amerikaner sehr, die Freundlichkeit und die Herzlichkeit, das schnelle Lächeln, dass Amerikaner sich immer auch als Menschen, nicht nur mit ihrer beruflichen Fassade begegnen. Den Glauben an die Freude und dass man glücklich sein kann. Das ist für mich sehr bereichernd. Und ich liebe es sehr, in Kalifornien in einem Immigrantenstaat zu leben, wo alle wie ich von irgendwo herkommen und zusammen etwas bauen.

    Das haben Sie in Deutschland vermisst?

    Funke: Ja, das habe ich sehr vermisst, wenn ich morgens in den Bus einstieg und erschrockene Blicke erntete, weil ich guten Morgen sagte. Aber ich sehe auch, dass Deutschland sich ändert. Jedes Mal, wenn ich wieder komme, habe ich das Gefühl, es ist leichter und lockerer und bunter. Für mich ist das, worum Deutschland sich solche Sorgen macht, das Wunderbarste: die Immigration. Jedes Land wird traurig, wenn es keinen Austausch mit anderen Kulturen gibt.

    Gerade in Amerika haben Sie aber auch sehr schwierige Zeiten erlebt. Ihr Mann erkrankte dort schwer und starb und im letzten Jahr wurde Ihre Farm in Malibu vom Feuer bedroht, und Sie mussten sie vorübergehend verlassen.

    Funke: Das hat mich den Ort, an dem ich lebe, nur noch mehr lieben lassen. Den Männern, die vier Tage ihr Leben riskiert haben, mein Haus zu retten, bin ich jetzt verpflichtet, und umso mehr muss ich die Pläne, die ich mit meiner Farm habe, weiter vorantreiben.

    Welche Pläne sind das?

    Funke: Ich baue ein Projekt auf, bei dem Künstler – Maler, Illustratoren, Schriftsteller, Musiker – aus aller Welt zu mir kommen. Bisher waren etwa 20 Künstler hier, die gearbeitet haben, allein oder zusammen mit mir. Ich kümmere mich sehr persönlich um sie. Außerdem bringe ich Familien aus der Stadtwüste, die L.A. auch sein kann, hierher, unterstütze Organisationen wie das California Wildlife Center und mache hoffentlich bald noch viel mehr. Ich habe mir immer erträumt, so zu leben, jetzt habe ich das Land dafür.

    Sie haben auch eine Stiftung, die Sie nach dem Reich der Drachen in Ihrem Buch „Drachenreiter“ benannt haben: „Der Saum des Himmels“. Was macht diese Stiftung?

    Funke: Damit unterstütze ich Naturschutzorganisationen, Büchereien für unterprivilegierte Kinder, die Communal Gardens in Los Angeles oder eine Weihnachtsfeier für ein Obdachlosenzentrum für Teenager. Wir haben jedes Jahr einen bestimmten Etat und entscheiden Monat für Monat, wo das Geld hingeht. Auch das finde ich übrigens gut in Amerika: Persönliches finanzielles Engagement ist selbstverständlich und wird erwartet, denn niemand kommt hier wie in Deutschland auf die Idee, dass der Staat das schon alles richten wird.

    Haben Sie bei all dem Engagement noch Zeit fürs Schreiben?

    Funke: Ich bin zum Glück sehr diszipliniert und organisiert. Sehr deutsch, wie die Amerikaner sagen würden. Und wenn ich morgens erst einmal die Esel und Enten füttere und zwischendurch Avocados pflücke, dann habe ich so viel Entspannung, Freizeit und anderes Leben, dass es auch wunderbar ist, sich an den Schreibtisch zu setzen. Ich habe weniger Zeit zum Schreiben, aber das finde ich in Ordnung. Ich bin jetzt 60 Jahre alt und will nicht einfach nur Bücher am Fließband herausbringen. Meine Verlage wissen, dass mein Schwerpunkt im Moment die Arbeit der Stiftung ist und weiterzugeben, was ich gelernt habe. Das ist nicht nur wichtig, es macht auch glücklich.

    Ihre Leser werden das sehr bedauern, die verehren Sie ja geradezu wie ein Idol. Bei den Lesungen fällt immer wieder der Satz: „Danke, dass Sie diese Bücher geschrieben haben.“ Wie gehen Sie damit um?

    Funke: Das macht großen Spaß. Das ist ja keine Berühmtheit, wie bei einem Filmstar. Mich erkennt kaum einer auf der Straße. Es ist eine schöne Art von Berühmtheit, die einem das Gefühl gibt, dass man viel im Leben weitergegeben hat.

    Deshalb wurden Sie 2005 vom Time Magazine auf die Liste der 100 bedeutendsten Persönlichkeiten gesetzt.

    Funke: Zuerst fand ich das absurd, aber dann wurde mir klar, dass ich Verantwortung habe, wenn mich zwei Millionen Kinder lesen. Was bedeutet denn das, welche Werte gibst du weiter, habe ich mich gefragt. Das sind hoffentlich welche, die dieser braunen Brühe, die sich gerade wieder zeigt, entgegenstehen. In Amerika gibt es gerade eine Initiative von Verlagen, die den Slogan hat: „The Characters in my books would never do what you are doing“. Nach dem Motto: „Jim Knopf würde sich nie so benehmen.“ Wir Autoren benutzen unsere Figuren, um die Menschen auf Missstände und Fehlverhalten hinzuweisen. Meine Figuren würden keine Kinder in Käfige stecken. Oder gegen Immigranten marschieren.

    Zur Person: Cornelia Funke, geboren 1958, gilt als erfolgreichste deutsche Jugendbuchautorin. Ihr aktueller Roman „Das Labyrinth des Fauns“ erschien im Juli.

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