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Buchtipp Herbst: "Wie alles kam" von Paul Maar: Der ungeratene Sohn

Buchtipp Herbst

"Wie alles kam" von Paul Maar: Der ungeratene Sohn

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    "Wie alles kam" von Paul Maar: Der ungeratene Sohn
    "Wie alles kam" von Paul Maar: Der ungeratene Sohn

    Wenn man den Sams-Erfinder Paul Maar fragt, aus welcher Quelle er seine über 70 berühmten Kinderbücher schöpft, dann gibt er gern eine Antwort, die fast schon wie ein Lehrsatz klingt. „Es gibt zwei Sorten von Kinderbuchautoren. Die mit einer besonders glücklichen Kindheit und die mit einer besonders unglücklichen.“

    Von Astrid Lindgren etwa wisse man, dass ihre unbeschwerte Kinderzeit auf einem Bauernhof in Südschweden eingeflossen ist in ihre Geschichten. Bei ihm sei es gerade andersherum, ihn treibe die schwere Zeit in jungen Jahren an, Bücher zu schreiben, um eine Kindheit zu imaginieren, die er selbst nie hatte.

    Herzenswärme und Geborgenheit erfährt er bei seiner Stiefmutter

    Nun hat der 82-Jährige für erwachsene Leser geschrieben, in einer schnörkellosen und klaren Sprache, durch die sich auch seine Kinderbücher auszeichnen. Eindringlich einfach, nie aber simpel, erzählt Maar in „Wie alles kam“ von seiner Kindheit. Er zeichnet in präzisen Beobachtungen ein Bild vom Leben während der letzten Jahre des Krieges und der ersten danach, das neben der individuellen Färbung viel Grundsätzliches enthält über das Leben in dieser Zeit: über die Traumatisierung durch den Krieg, die städtischen Bombennächte und die ländliche Idylle, den Volkssturm, die Kapitulation, das Leben in Ruinen und den Wiederaufbau. Vor diesem Hintergrund erzählt Paul Maar von dem prägenden Spannungsfeld aus Herzenswärme und Geborgenheit, die er durch seine Stiefmutter und deren Familie fand, und der Abneigung und Härte, die ihm sein Vater zuteilwerden ließ.

    Sieben Wochen nach seiner Geburt war seine leibliche Mutter gestorben, wenn Maar von seiner Mutter spricht, so ist es die zweite Frau seines Vaters. Mit ihr erlebt er, nachdem sein Vater 1942 in den Krieg eingezogen wurde, die Nächte im Luftschutzkeller. Mit ihr und der Großmutter väterlicherseits geht er schließlich aufs Land zur Familie der Stiefmutter, die in Obertheres einen Gasthof bewirtschaftet. Dort schließt Paul Maar lebenslange Freundschaften mit den Nachbarjungen und fühlt sich aufgehoben im Umfeld von Menschen, die mit Humor und Pragmatik der Zeit trotzen und das verträumte, zurückhaltende Kind frei von Gängeleien aufwachsen lassen.

    Maar schildert dies nicht in der chronologischen Abfolge einer Autobiografie, sondern schreibt den „Roman seiner Kindheit“, wie es im Untertitel heißt, in dem er „wie große und kleine Pfützen nach einem Starkregen“ Erinnerungen an Ereignisse und Menschen in Verbindung miteinander bringt – oder auch nicht. „Schafft man es, mit einem Stock eine Furche zu einer benachbarten Pfütze in die feuchte Erde zu ziehen, verbindet sich der Inhalt der einen mit der anderen zu einer starken Erinnerung. Die meisten Pfützen bleiben aber isoliert.“

    Nele - seine große Liebe - lernt im Gymnasium kennen

    So erzählt Maar auch von seiner großen Liebe zu Nele, die er im letzten Gymnasialjahr kennenlernte und die später seine Frau wurde. Sie kommt aus einer Theaterfamilie – ihr Bruder ist der später berühmte Kameramann Michael Ballhaus – und verkörpert mit ihrer Wildheit und Unkonventionalität eine Welt, die Paul Maar in den Bann zieht. Durch sie findet er den Mut, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. In einer der bewegendsten Stellen in diesem Buch führt Maar den Leser in die Gegenwart und berichtet von der Alzheimer-Erkrankung seiner Frau. „Vor einem Jahr, als sie noch ganze Sätze formulieren konnte, sagte sie: „Wenn ich deine Hand halte, fühle ich mich sicher.“ Seitdem schlafen wir Hand in Hand ein. Dabei gewinnt nicht nur sie, auch mir gibt es viel.“

    Der Vater ist der "Schreckensmann" - ohne Verständnis für den sensiblen Sohn

    Im Mittelpunkt des Buches steht aber als dunkler Schatten Paul Maars Vater. Er ist der „Schreckensmann“, der kein Verständnis für seinen sensiblen Sohn findet, der das Kind psychisch unter Druck setzt und körperlich züchtigt. Paul ist „der ungeratene Sohn, der so gar nicht seinen Vorstellungen von einem drahtigen, sportbegeisterten Jungen entspricht, sondern mit Brille auf der Nase und krummem Rücken verweichlicht im Sessel lümmelte, ein Buch in der Hand“. Zeichnen und Lesen sind nicht mehr nur Lieblingsbeschäftigungen für den jungen Paul, sondern werden – wenngleich oder gerade weil vom Vater missbilligt – zur Rückzugsmöglichkeit auf eine innere Insel. Die Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft sechs Jahre nach Kriegsende ist d e r Einschnitt in Paul Maars Kindheit. „Den Vater meiner frühen Kindheit habe ich als ausgeglichenen, unternehmungslustigen, fröhlichen Menschen in Erinnerung. Zum Vater, der mir fremd war, der mich schlug und mir Angst machte, wurde er erst, als er verbittert als König ohne Land im dörflichen Exil ausharren musste.“ Selbst als der Vater über 90-jährig in einem Heim dem Sterben entgegensieht, ist es den beiden Männern nicht möglich, ihr zerrüttetes Verhältnis zu kitten. Bis heute bleibt die gestörte Beziehung zum Vater die große Leerstelle im Leben des Kinderbuchautors.

    Als das Manuskript vollendet war, erhielt Maar aus dem Nachlass seiner Mutter Briefe, die ihr der Vater von der Front schrieb und aus denen in warmen Worten die Liebe und Fürsorge für den kleinen Sohn sprechen. Wie, so fragt sich Maar, konnte der liebende Vater später zum Schreckensmann werden? Er kommt zu der Erkenntnis, dass es auch die Enttäuschung des Vaters über die Ablehnung des Sohnes war, als er aus dem Krieg nach Hause kam, die diesen so veränderte. Hier geht es zur Leseprobe

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