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Buchtipp Herbst: "Schwitters" von Ulrike Draesner: Kurt und Körrt, zwei Leben

Buchtipp Herbst

"Schwitters" von Ulrike Draesner: Kurt und Körrt, zwei Leben

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    "Schwitters" von Ulrike Draesner: Kurt und Körrt, zwei Leben
    "Schwitters" von Ulrike Draesner: Kurt und Körrt, zwei Leben

    Ein Mann auf der Flucht vor den Nazis: erst mal raus aus Deutschland, aus der Villa in Hannover, mit dem Sohn nach Norwegen, die Frau wird zu Hause bleiben und sich dort um alte Mütter, Haus und Kunst kümmern. Nun aber läuft die Aufenthaltsgenehmigung in Norwegen ab, überrennt Hitlers Armee das nächste Land, also weiter, im Zug, im Boot, auf dem Schiff Richtung England. Was aber kann, was will man retten? Kurt Schwitters entscheidet sich für zwei Mäuse. Stomper und Fatty. „Wie wäre ihre mausige Durchsichtigkeit zu malen, wie der Glanz um ihr Fell“, sinniert er, während um ihn herum die Bomben fliegen, sich die Mäuse in seine Hand schmiegen.

    Und bevor man nun zum Roman kommt, Titel maximal verknappt – „Schwitters“, nicht einmal den Vornamen braucht es –, zur Vorgeschichte, wie er entstand. Die hätte Kurt Schwitters vermutlich gefallen. Er selbst, der Dada-Künstler, Dichter, Maler, Raumkünstler, der aus dem Abfall des Alltags das Material für seine Kunst klaubte, ein Zufallsfund. Entdeckt von der Schriftstellerin Ulrike Draesner beim etwas schleppenden Gespräch mit einer Mittelalterforscherin in Oxford. 2015 war sie dort als Writer in Residence, bei Tee und Cookies hatte man sich wenig zu sagen, dann sah sie einen komischen Gegenstand an der Wand, „ein Schwitters-Remake“, erzählte die Gastgeberin, fing von seiner Zeit in England an zu erzählen, und bei Draesner machte es im Kopf „klick, klick, klick: Das ist mein Mann“. Ein Glücksfall also, dieser Nachmittag, für die Schriftstellerin und für die Literatur. Welch ein großartiges Buch nämlich!

    Draesners Biografie beginnt mit den letzten Tagen von Schwitters in Hannover. Oktober 1936, nebenan wird die Villa einer jüdischen Familie leer geräumt. Schwitters, dessen Kunst den Nazis als entartet gilt, grübelt mit seiner Ehefrau Helma über mögliche Auswege. Die Gestapo hat ihn bereits vorgeladen. Wie sich selbst retten, wie seine raumübergreifende, in der Villa verbaute Kunst: der höhlenartige Merzbau. „Ein Labyrinth, in dem kein Wollknäuel half, weil es nicht darauf ankam, zu einem Zentrum vorzudringen oder aus der Skulptur, in die man sich verschluckt fand, herauszutreten.“ Und – wie die Ehe retten?

    Nach Norwegen werden noch Päckchen mit Zeichenutensilien geschickt

    Auch die zählt zu den Verlusten, die Kurt Schwitters in den nächsten Jahren erleiden wird. Nach Norwegen, wo der Sohn Ernst lebt, wohin Schwitters flieht, kann Helma noch Päckchen schicken mit Zeichenutensilien und Nahrung. Im zweiten Exil, England, ist die Distanz so groß geworden, dass sie ihm in Briefen nicht einmal mehr von ihrer Krebserkrankung erzählt, an der sie 1944 sterben wird. Und Schwitters, Frauenmagnet, wiederum nicht von der anderen, Edith Thomas, einer jungen Engländerin, die längst mit ihm lebt, liebevoll Wantee genannt.

    Kurt Schwitters ist nun Körrt Switters, nicht mehr wohlsituierter, gut vernetzer Kunststar aus Hannover, sondern ein Habenichts ohne Heimat, gesundheitlich angeschlagen, der die Kunst des Überlebens lernt, Porträts fürs karge Abendessen malt, dem die Sprache fürs Dichten abhandengekommen ist. „Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! Du, Deiner; Dich Dir, ich Dir, Du mir, - - - - wir? Das gehört beiläufig nicht hierher!“ Die Anfangszeilen aus seinem berühmten Gedicht „Anna Blume“, in der Übersetzung geht der Wortwitz verloren. „Ein Zuhause wurde in Scheibchen von einem abgeschnitten. War das vorbei, sucht man ein Auskommen. Ein Auskommen war, wie das Wort überdeutlich anzeigte, eine Form von Bleiben und eine Form von weiterer Flucht, beides zugleich“, denkt Schwitters, denkt Draesner. Aber auch in England ein Merzbau, in einer Scheune. Und vom MoMA in New York erhält er ein Stipendium. Im Januar 1948 trifft die Einbürgerungsurkunde ein. Da ist Schwitters, 61, sterbenskrank, schon zu schwach, um sie zu unterschreiben. Edith Thomas wird ihn in Ambleside im Lake District begraben. Zwölf Jahre später wird auf Geheiß seines Sohnes der Leichnam nach Hannover überführt.

    Draesner glückt eine Art literarischer Merzbau

    Ein Mann, zwei Leben, zwei Gräber. Wie das deutsche und das englische Leben auseinanderdriften, wie es dem Sprachkünstler den Boden unter den Füßen wegreißt, er sich das fremde Land in seiner Kunst zum eigenen macht, die Farben dieser neuen Landschaft sich zusammenmischt, davon erzählt Ulrike Draesner in einer Sprache, in der jeder Satz zum literarischen Fundstück wird. Der ganze Roman schwittert. „Kunst handelt nicht von ihrem Künstler. Sie handelt nicht von sich. Nicht einmal von ihrem Gegenstand. Sie erzeugt ihn“, schreibt Draesner. Man kann sich in dieser Biografie aufhalten, Feinheiten entdecken, unerwartete Ausblicke, Einblicke, Perspektivwechsel, auch Ehefrau, Sohn und Geliebte lässt Draesner ihre Stimme einfügen, eine Art literarischer Merzbau.

    Der Roman endet, wie er beginnt: mit einem Abtransport. 1965 wird „Switty“, die Installation in der Scheune, der letzte Merzbau, von „Kunstsanitätern“ ausgebaut, auf eine Palette verpackt und mit einem Anhänger in die Hatton-Galerie nach Newcastle verfrachtet. „Switty, die Königin im Mülldiadem, gilt als sofort als Teil der englischen Kunst des 20. Jahrhunderts.“ Hätte Kurt Schwitters gefallen, wie auch die besondere Entstehungsgeschichte dieses Romans. Ulrike Draesner schrieb ihn auf Englisch, übertrug ihn dann ins Deutsche. Wie passend, ein Buch mit zwei Identitäten. Hier geht es zur Leseprobe

    Mehr Buchtipps finden Sie hier: Empfehlungen unserer Redaktion - Zehn Bücher für den Herbst

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