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Buchkritik: „Über Menschen“: Der neue Roman von Juli Zeh ist eine Zumutung

Buchkritik

„Über Menschen“: Der neue Roman von Juli Zeh ist eine Zumutung

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    Juli Zeh, 46, stammt aus Bonn und lebt selbst mit Familie in der ostdeutschen Provinz. Sie gehört zu den Stars der deutschen Gegenwartsliteratur, mischt immer wieder in Gesellschaftsdebatten mit und ist Mitglied der SPD.
    Juli Zeh, 46, stammt aus Bonn und lebt selbst mit Familie in der ostdeutschen Provinz. Sie gehört zu den Stars der deutschen Gegenwartsliteratur, mischt immer wieder in Gesellschaftsdebatten mit und ist Mitglied der SPD. Foto: Peter von Felbert

    Das ist dann wohl so etwas wie die Schlüsselstelle. In einem Kapitel, das die schlichte Überschrift „AfD“ trägt, erklärt ein Nachbar namens Tom der zugezogenen Dora, wie das so ist mit den Wahrheiten und dem Leben, hier, in der Brandenburgischen Provinz, als er sagt: „In Bracken ist man unter den Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen.“

    Und ist es nicht genau, was auch Juli Zeh in ihrem neuen Roman ihren Leserinnen und Lesern zuzumuten versucht? Hinschauen auf die uneindeutige Wirklichkeit, statt urteilen in bequemen Schwarz-weiß-Mustern. In einer Art Fortsetzung ihres auch zur Fernsehserie gewordenen Bestsellers führt sie jedenfalls erneut eine Berlin-Flüchtende in die strukturschwache Region mit hohem AfD-Wähler-Anteil, um daran die Spaltung der deutschen Lebenswirklichkeiten mehr zu inszenieren, als zu reflektieren: von „Unter Leuten“ zu „Über Menschen“. Aber so vordergründig griffig und pfiffig schon die weitergedrehte Titelwahl wirkt und dann doch merkwürdig quer etwa zur Aussage jener Schlüsselstelle steht – so vordergründig klug und wirkungsvoll, dann aber doch unausgegoren, fast naiv wirkt letztlich vieles an diesem Roman.

    Juli Zehs "Über Menschen": Ein Schwules Paar wird zum Hassobjekt des Nazi-Nachbarn

    Nur zum Beispiel: Eben jener Tom ist es auch, der hier offen in einer schwulen Beziehung lebt; dessen Partner als Florist sich der romantischen Erwartungen der Ausflugs-Städtern an die Provinz zu bedienen weiß, dabei auch Migranten beschäftigt; weshalb das Paar gleich doppelt zum Hassobjekt eines wiederum benachbarten Nazis taugt, der immer wieder mal nachts besoffen vor ihrem Haus auftaucht, um sie zu beschimpfen und sie zu bedrohen – und Tom wiederum, selbst (ironisch?) bis aufs Klingelschild bekennender AfD-Wähler, nimmt diesen zum Vorbild seines neuen Kabarettprogramms, in dem er geifert, dass solche vermeintlichen „Übermenschen“ doch tatsächlich selbst nur menschliche Wracks seien … Ja, na ja, es ist halt kompliziert, so unter Leuten, Frau Zeh?

    Buchcover des Romans "Über Menschen" von Juli Zeh, der am 22. März erscheint.
    Buchcover des Romans "Über Menschen" von Juli Zeh, der am 22. März erscheint. Foto: dpa

    Dabei ist die Struktur des Romans deutlich klarer als die des Vorgängers. Statt in ständigen Perspektivwechseln bleibt die Autorin diesmal bei ihrer Hauptfigur, der 36-jährigen Dora, die vor allem vor zweierlei aufs Land flieht: der ständigen Getriebenheit in ihrem Beruf als Werbetexterin, in dem sie zuletzt eine Kampagne für Bio-Fairtrade-Jeans entwirft, als Label „Gutmensch“ wählt und in den Spots dazu eben einen solchen als im Alltag tragikomisch scheiternde Figur zum Sympathieträger zu machen versucht; vor allem aber ist die Beziehung mit Robert in die Brüche gegangen, weil dieser sich von seinem hitzigen Treiben als Online-Journalist immer mehr auch ins Private übergreifend zum ideologischen, zum tyrannischen Apokalyptiker entwickelt hat – zunächst als geradezu in Greta Thunberg vernarrter Klima-Aktivist, dann als mahnender Prediger der heraufziehenden Corona-Pandemie. Oh weh.

    Juli Zehs "Über Menschen": Doras Nachbar ist der Dorf-Nazi

    Zeit des Geschehens ist also das Jahr 2020, alles gesellschaftlich Relevante ist in diesen Roman gepackt. Ort des Geschehens ist das nun 285-Seelen-Dorf Bracken, in dem Dora mit ihrem aufgesparten Erbe den Kauf eines schon etwas heruntergekommenen Landhauses anfinanziert. Um sich dem konkreten Projekt zu widmen, aus dem unwirtlichen Grundstück einen Garten zu machen, statt sich ständig überfordert zu fühlen vom Immer-Mehr-Leisten-Müssen und panisch zu werden angesichts des Zustands der Welt und den links-grünen Propheten des Alles-Richtig-Machens á la Robert. Aber wie in „Unter Leuten“ eine der Stadt-Flüchtenden im vermeintlichen Idyll eben auf einen Chaoten mit Autowerkstatt und brennenden Reifen als direkten Nachbarn trifft, so stellt sich Doras glatzköpfiger, roher, saufender Anlieger dann gleich mal so vor: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ Oh weh.

    Und nun kann Dora zwar bei sich kritisch über Heideggers Aussagen zu Sein und Dasein nachdenken – aber wenn sie diesen Typen von nebenan, den sie hässlich und stinkend findet und der sich Gote nennt, dann abends beim Saufen mit Kumpels das „Horst Wessel“-Lied grölen hört, dann sagt sie halt lieber doch nichts. Sondern lenkt sich mit dem Betrachten eines Vogels beim Bau eines Nestes ab, fragend, ob das nicht „Horst“ genannt werde. Und als sie sich später doch traut, weil sie diesen Gote dann kennen lernt durch dessen herumstreunende Tochter und weil der rätselhafte Typ ihr heimlich beim Einrichten des Hauses hilft und weil sie irgendwann beginnen, abends die letzte Zigarette gemeinsam schweigend an der hohen Mauer zu rauchen, die die Grundstücke trennt … – als sie ihn also doch auf Horst Wessel anspricht, lässt sie ihn damit davonkommen, dass er auf den Hinweis, das Lied sei ja nicht ohne Grund verboten, entgegnet: genauso wie ihr gegenwärtiges Zusammensitzen, durch die Corona-Maßnahmen verboten sei. Oh weh.

    „Wirst dich daran gewöhnen müssen“, hatte Tom gesagt. Und tatsächlich gewöhnt sich Dora in diesem zentralen Verhältnis des Romans zu Gote, immer mehr und sieht: Der Nazi liebt seine Tochter, hat sogar künstlerisches Talent beim Schnitzen. Hat zwar eine Vorstrafe wegen eines Messerangriffs mit seinen Kumpels gegen einen Antifa-Typen, die Dora angesichts aktueller Geschehnisse zweifeln lässt, ob Gote nicht auch in einer Shisha-Bar Amok laufen könnte oder auf Floyd Georges Knopf knien würde. Hat aber eben auch eine Geschichte, die den Verlust des alten Zuhauses wie den Verlust seiner eigenen Familie enthält – und er hat gesundheitliche Probleme, um die sich Dora dann mit Hilfe ihres eigenen hoch kultivierten Wessi-Elite-Arzt-Vaters kümmert, während Gotes rauer, einfacher Ossi-Vater ihn als Teenager schon auf die Ausschreitungen gegen Asylbewerberheime in den 90ern wie in Rostock mitgenommen hat. Dora jedenfalls erkennt, dass dieser Nazi, so heißt es wörtlich, „auch ein Mensch ist“. Und dazu ein richtiger Kerl, in dessen unmittelbare Präsenz sie sich selbst gegenwärtiger fühlt als neben allen Roberts, sodass auch ihre Panikattacken nachlassen und sie erstmals den Gedanken an eine eigene Familie zulassen kann. Oh weh.

    Juli Zeh schreibt über Politikverdruss von allen Seiten

    Es ist also einiges, was Juli Zeh hier zumutet. In ihrer bis ins Detail bedeutungshubernden Konstruktion wie in der mit dem erhobenen Zeigefinger rundum deutenden Entwicklung ihrer Geschichte. Es tritt zum Beispiel noch auf: Sadie, alleinerziehende Mutter, die in Nachtschicht arbeiten muss und durch die Corona-Maßnahmen nun völlig ans Ende ihrer Kräfte kommt. Und es dringt immer wieder durch: Politikverdruss von allen Seiten, gespeist bei Robert etwa vom Versagensvorwurf in existenziellen Weltkrisen, gespeist bei Tom etwa vom Vernachlässigungsvorwurf in der konkreten Lebenslage der Provinz. Und es flammt immer wieder auf: Kritik an den Medien, die auf Daueralarm programmiert sind und das kritische Denken eingestellt zu haben scheinen … Oh weh.

    Eben ein Gesellschaftsroman, könnte man sagen, der in Juli Zeh, die in ihrer Herkunft ja selbst städtisch westdeutsch geprägt ist und längst mit Familie in der ostdeutschen Provinz lebt, szenisch eine versierte und kundige Erzählerin hat. Aber die hier freilich mit ihrer Hauptfigur nicht zu verwechseln ist. Aber gerade die in ihren Romanen als gesellschaftliche Versuchsanordnungen sonst auch analytisch kluge 46-Jährigen lässt einen hier teils rat-, teils fassungslos zurück. Bricht sie nicht Klischees selbst bloß mit Klischees? Das drohende gesellschaftliche Scheitern in der herrschenden Vereinfachung des Gegeneinanders – wird dem hier nicht letztlich ein erzählerisches Scheitern an der tatsächlichen Komplexität des möglichen Miteinanders entgegnet? Ist die Aufklärung über die Wirklichkeiten des Lebens hier nicht fadenscheinige Pädagogik: dass richtig und falsch im wahren Leben nie so einfach und absolut zu haben sind?

    Das Unbehagen über Juli Zehs "Über Menschen" ist groß

    Das Unbehagen über dieses Buch jedenfalls ist letztlich größer als das Unbehagen über die Gesellschaft, die darin beschrieben sein soll. Literatur soll hier offenbar als Mediator wirken – und lässt jede Haltung als fragwürdig erscheinen. Kennzeichnet das aber nicht auch gegenwärtige Politik? Und ist das ein Segen?

    Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand, 416 Seiten, 22 Euro

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