Eigentlich schien in diesem Frühjahr 1920, vor jetzt genau 100 Jahren also, schon alles vorbei. Benito Mussolini, 37, und Zeitungsmacher, hatte zwar die „Arditi“ hinter sich versammelt, jene wilden Krieger der Italiener im Ersten Weltkrieg, aus denen dereinst die Schwarzhemden werden sollten, die sich im noch frischen Frieden nun aber überflüssig und vor allem undankbar behandelt fühlten; und er hatte auch ein Jahr zuvor die „Fasci di Combattimento“ gegründet, die Wurzel einer Bewegung, die demnach begriffsbildend als Faschisten bezeichnet werden sollten.
Mussolini wurde zum Hoffnungsträger
Doch nun war doch die Zeit der Roten gekommen, zu denen er einst gehört hatte, die ihn aber als Verräter sahen, seit er zum Interventionisten geworden war, zum Befürworter eines Kriegseintritts Italiens. Die Sozialisten gewannen die Arbeiter für sich und bald schon Mehrheiten in den Parlamenten, also die Macht. Wie es ihm, Mussolini, trotzdem gelang, sich bald schon zum Hoffnungsträger emporzuarbeiten und schon 1925 zum Duce, zum Führer eines Regimes, krönen zu lassen, das beobachtete bekanntlich auch ein ehemaliger österreichisch-deutscher Soldat in München mit großem Interesse…
Aber nicht um Hitler-Vergleiche geht es hier. Das so dicke wie wuchtige Buch, mit dem der Medienwissenschaftler Andrea Scurati nun diesen Aufstieg beschreibt, sorgt als bereits bis in die USA hoch gerühmter Bestseller mit zwei ganz anderen Bezugsfragen für Debatten: 1. Ist es nicht eine gefährliche Anmaßung, dass er diese Geschichte als Roman und in vielen Teilen auch noch aus der Perspektive Mussolinis und der Faschisten selbst erzählt? 2. Ist das über 800 Seiten starke „M – Der Sohn des Jahrhunderts“ ein Lehrstück über den Rechtspopulismus, das uns auch Zentrales über das Erstarken in Teilen faschistischer Bewegungen in dieser Zeit erzählt?
Die herrschenden Verhältnisse werden als Chaos dargestellt
Um mit Letzterem zu beginnen: Tatsächlich gibt es immer wieder einschneidende Momente in der Beschreibung dieses Aufstiegs, die einen zumindest innehalten lassen und zu Vergleichen mit den Strategien der Rechtspopulisten in den gegenwärtigen politischen Strukturen einladen. Auch die Vordenker der Identitären und die Mentoren eines Björn Höcke wie Götz Kubitschek, haben sich ja zu Beginn als das eine Prozent gesehen, als eine kleine Wurzel-Bewegung, die dann erst Kraft entfaltete, als es ein gesellschaftliches Bedrohungsszenario gegen die Nation in größerer Breite verfing. Es wirkt die Verheißung der Beschützer der eigenen Identität, damals gegen eine Verscherbelung durch die Linken an den Sowjetsozialismus, heute gegen einen vermeintlich linken Mainstream, der das eigene Volk vergesse und sogar eine Umvolkung plane.
Damals wie heute geht es um die Darstellung der herrschenden Verhältnisse als Chaos, die Befeuerung dieses Eindrucks durch ständige, uneindeutige Störmanöver, um sich dann als Bewahrer der Ordnung anzubieten. Das ist womöglich sogar der beste Effekt dieses Buches, wie kalt es einem wird, wenn Scurati beschreibt, dass im April 1921 der liberale Stratege Giovanni Giolitti „einen eigenen Plan“ hat, als er ein Wahlbündnis mit den Faschisten eingeht, nämlich: „…die faschistische Ungesetzlichkeit, die er für vorübergehend hält, zügeln, indem man sie auf den Boden der Verfassung zwingt.“ Wehe dem, der an Entzauberung durch Einbindung denkt – vielleicht wirkt die Mahnung in diesem Fall gerade hierzulande sogar eindrücklicher, weil es mal nicht um einen alles verstellenden Hitler-Vergleich geht, sondern mit Mussolini ohne eindeutige Wiederholungsmuster eher die strategischen Strukturen erkennbar bleiben.
Die Fernsehserie zum Buch ist beschlossen
Aber ist „M“ deshalb ein gutes, ein notwendiges Buch, wo es doch schon so gute und in die heutige Nachwirkung reichende Duce-Biografien gibt wie jene von Hans Woller mit „Der erste Faschist“? Ist es ein guter Roman?
Andrea Scurati, Jahrgang 1969, der in Mailand lehrt und dort auch das Forschungszentrum für Krieg- und Gewaltsprachen koordiniert, bietet jedenfalls alles auf. Ein Register mit über 70 Personen, schnell wechselnde Szenen aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert, dazwischen ergänzt durch Originalzitate, die auf die faktische Basis der belebten Fiktion verweisen und damit den Charakter eines „Dokumentarromans“ erfüllen sollen. Und es ist dies übrigens nur der erste Teil einer Trilogie über Mussolinis Leben, lediglich bis 1924 reichend. Die Umsetzung in einer Fernsehserie ist bereits beschlossen, Andrea Scurati selbst wird die Drehbuchversion liefern.
Bedeutungsvolle Szenen jedenfalls hat er reichlich zu bieten. Wenn zum Beispiel Margarita Sarfatti, eine von Mussolinis zahlreichen Geliebten und zudem seine steinreiche Förderin, über ihren „ergebensten Wilden“ bereits in diesem Frühjahr vor 100 Jahren trotz der demütigenden Wahlniederlage denkt: „…und doch wird er es sein – da ist sich Margarita sicher – , der die Kraft der Straße entfesselt; er, der Sohn eines Schmieds, verkörpert den „Mut von unten“… Er, Benito Mussolini, mit den bartlosen Wangen, den dunklen, tiefgründigen Augen eines Wahnsinnigen, dem ins Nichts gerichteten Blick und der dreisten Männlichkeit seiner bäurischen, an ein gehetztes Tier erinnernden Gestalt, er wird diesem Jahrhundert die Botschaft überbringen, dass das Übereinkommen zwischen den guten Sitten der feisten alten Sozialistenführer und dem nagenden Hunger der schlecht ernährten Massen nicht mehr gilt, dass es nun darum geht, sich wie ein Blindgänger ins Geschehen zu werfen, dass die alte Welt am Ende ist.“
Mussolini im „House of Cards“-Format
Ja, so wuchtig und bedeutungsschwer ist der Ton dieses dicken Buches zumeist. Und Scurati deckt darin zwar immer wieder auf, wie opportunistisch bis hin zur Charakterlosigkeit dieser Mussolini in seinem Streben nach Macht handelt, wenn er etwa den mitstreitenden und gesinnungsfesten Dichter d’Annunzio bei seinem nationalen Sturm auf das durch die Pariser Friedensverträge verlorene Fiume einfach für einen guten Deal hängen lässt, wenn er den vordenkenden Freund und Futuristen Marinetti einfach kaltstellt, um neue Anhängerschaften für sich gewinnen zu können. Aber diese ja durchaus auch aufklärerisch gemeinten Momente gehen letztlich unter im Pathos, das eher einen historischen Super-Coup eines skrupellosen Anti-Helden zu beschreiben scheint, als eine geschichtliche Aufarbeitung mitzubetreiben. Mussolini im dunkel faszinierenden „House of Cards“-Format samt regelmäßigen, saftigen Sexszenen? So prekär ist es mitunter.
Und am Ende denkt dieser Frank-Underwood-Mussolini wie ins Off eines zeitlosen Himmels erhoben, während ihn die Massen bejubeln: „Schau sie dir an, hör sie dir an: Sie begreifen nicht, was los ist. Weder die einen, noch die anderen. Sie begreifen nicht, was ich mit ihnen mache. Sie werden weiterkämpfen, auf der einen Seite wie auf der anderen, ohne zu wissen, dass sie bereits ein Totenhaus bewohnen. Unsere Leute, die Faschisten im Schwarzhemd mit dem gestickten weißen Totenkopf, wohnten schon immer darin, allen anderen, die jahrhundertelang in Ehrfurcht für das menschliche Wesen erzogen wurden, ist es unbekannt. Vom Kampfinstinkt verlassen, tappen sie in der endlosen Ebene zitternd durch die Nacht. Sie begreifen nicht, sie begreifen es einfach nicht… wie in einen Sack gesteckte blinde Kätzchen… Niemand wollte sich das Kreuz der Macht auf die Schultern laden. So nehme ich es.“
Düster messianisches Fantasy-Pathos, das einen bei „Star Wars“ vielleicht nur die Stirn runzeln ließe. Hier allerdings ist es doppelt schlimm.
Informationen: Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Klett-Cotta; 830 Seiten, 32 Euro