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Konkrete Poesie: Bei Eugen Gomringer sind Wörter auch zum Anschauen da

Konkrete Poesie

Bei Eugen Gomringer sind Wörter auch zum Anschauen da

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    Nachdem eine Berliner Hochschule „avenidas“ nicht mehr sehen will, steht Eugen Gomringers Gedicht nun auf einer Hausfassade im oberfränkischen Rehau, dem Wohnort des Dichters (Bild).
    Nachdem eine Berliner Hochschule „avenidas“ nicht mehr sehen will, steht Eugen Gomringers Gedicht nun auf einer Hausfassade im oberfränkischen Rehau, dem Wohnort des Dichters (Bild). Foto: Nicole Armer, dpa

    Selbst unter Literaturinteressierten kommt es selten vor, dass ein Gedicht in aller Munde ist, vergangenen Herbst und Winter aber war das der Fall. Eugen Gomringers Achtzeiler „avenidas“ war zum Tagesgespräch geworden, weil eine Berliner Hochschule, auf deren Fassade das Gedicht seit Jahren prangte, plötzlich erkannt haben wollte, dass die Verse Sexismus befördern. Die Unterstellung rückte den Dichter, keinen Geringeren als den Erfinder der Konkreten Poesie und trotz seiner inzwischen 93 Jahre noch bewundernswert aktiv, nachhaltig ins Rampenlicht – und bescherte der literarischen Öffentlichkeit die Erkenntnis, dass von Gomringer eigentlich nichts auf dem Buchmarkt zu haben war.

    Dem Notstand hat der kleine Schweizer Nimbus Verlag jetzt Abhilfe verschafft, noch dazu mit einem Buch, das gelungener nicht sein könnte. Denn der Band mit dem Titel „poema“ versammelt nicht nur etwa 30 Gedichte Gomringers, ganzseitig gedruckt in weißer Schrift auf grauem Grund, was die grafische Qualität der konkreten Poeme unterstreicht. Beigegeben wurden auch zahlreiche Essays, die als weiterführende Interpretationen ebenso taugen wie als Einstiegshilfen in diese besondere Kunstform, auf deren Vertreter, wie es der Germanist Peter von Matt in seinem Beitrag plastisch formuliert, leicht der Schatten fällt, sie seien „phantasiearme Bastler, die mit den Wörtern umgehen wie Buben mit ihrem Baukasten“. Gomringer selbst hat für den Band die Auswahl besorgt, was erklärt, dass gerade sein essayistischer Teil nicht zum trockenen Interpretationshandbuch geraten ist.

    Mit dem „y“ hat es einiges auf sich

    Aufschlussreich ist besonders, was der Dichter selbst zu seinen Gedichten zu sagen hat – er äußert sich zu fast allen und natürlich in der für ihn typischen Kleinschreibung. Wie könnte es anders sein, steht „avenidas“, dieses 1953 entstandene, in spanischer Sprache geschriebene Initialgedicht der Konkreten Poesie, am Beginn. Gomringer verliert kein Wort über die Berliner Streiterei, ihm geht es nicht um die Wirkung, sondern um das Sprachereignis, das er mit dem Begriff der „konstellation“ umfasst und das keineswegs nur die Semantik der Wörter bedenkt, sondern auch deren grafische Qualität. So verweist Gomringer etwa auf das Detail, dass das mehrfach wiederkehrende „y“ (das deutsche „und“) mit seinen beiden Buchstabenschenkeln „auf das zusammenführen von einer vokabel links zur vokabel rechts“ aufmerksam mache – „eine visuelle Information“, typisch für die Konkrete Poesie.

    Nora Gomringer, Tochter und selber Dichterin, findet in einem eigenen Beitrag zu „avenidas“ dann doch ein paar Worte zu der Farce in Berlin, die bekanntlich auf das Übertünchen des Gedichts ihres Vaters hinauslief. Ihr Kommentar zu den Vorgängen: „Ironischerweise hat der vermeintliche Einsatz für mehr Frauenrechte einige Menschen zum Ausdruck perfider Misogynie angeregt; auf einmal klopfen mir, der Feministin Gomringer, AfD-Fraktionsmitglieder auf die Schulter, augenzwinkernd quasi, ein ,diesen Feministinnen muss man doch einen Strich durch die Rechnung machen’ mitgebend.“

    Vier Schüler beugen sich über das „schweigen“

    Einer der originellsten Beiträge des Buches stammt von der Sprachwissenschaftlerin Heike Baeskow. Er bezieht sich auf „schweigen“, dem neben „avenidas“ wohl bekanntesten Gedicht Eugen Gomringers. Baeskow verfasste eine kleine Erzählung: Vier Schüler sollen eine Interpretation des Gedichts abliefern, sehen sich aber überfordert und wenden sich an einen in solchen Fragen kundigen älteren Herrn. Der kennt „schweigen“ nicht, sodass ihm das Quartett die Struktur des Gedichts erst nahebringen muss, diese 14 bedachtsam angeordneten Wiederholungen des einen Wortes „schweigen“: „ … das ist wie ein kleiner Kasten aus Wörtern“, sagt eine, ein anderer: „ … und in der Mitte steht nichts“. Eben darauf kommt es an, und so erkennt der lyrikkundige ältere Herr am Ende: „Die wahre Schweigsamkeit entspringt der Lücke, denn Schweigen lässt sich nicht in Worte kleiden.“ Gut gesagt, die Schüler sind begeistert – der Leser kaum weniger –, und eine der Belehrten zitiert zu guter Letzt die Lehrerin, die immer sage, „wir sollen nicht überinterpretieren, also wir sollen uns hauptsächlich an das halten, was da steht“.

    Dieses Maßhalten des Interpretierens ohne Überanstrengung gelingt auch diesem schönen Buch. Wirft es den Leser doch immer wieder zurück auf das, „was da steht“, auf Eugen Gomringers Gedichte.

    " Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 212 S., 29,80 €

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