Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Auszeichnung: Eine Überraschung namens Literaturnobelpreis

Auszeichnung

Eine Überraschung namens Literaturnobelpreis

    • |
    Der neue Nobelpreisträger für Literatur, Abdulrazak Gurnah, muss in Deutschland erst entdeckt werden.
    Der neue Nobelpreisträger für Literatur, Abdulrazak Gurnah, muss in Deutschland erst entdeckt werden. Foto: Niklas Elmehed/Nobel Prize

    „Es gab eine Geschichte darüber, wie er zum ersten Mal gesehen wurde. Tatsächlich gab es mehr als eine, aber mit der Zeit und durch das viele Weitererzählen vermischten sich die Elemente der verschiedenen Geschichten zu einer. In allen tauchte er im Morgengrauen auf, wie eine Gestalt aus einem Mythos.“ So beginnt der Roman „Die Abtrünnigen“, der vor 15 Jahren auf Deutsch im Berlin-Verlag erschienen ist, damals mit wenigen, aber schönen Rezensionen flankiert, und der, wäre er noch lieferbar, gestern vermutlich im großen Stile geordert worden wäre. Geschrieben nämlich vom neuesten Literaturnobelpreisträger: Abdulrazak Gurnah aus Tansania.

    Sein Name war in den Wettlisten nicht aufgetaucht, oder wenn tatsächlich erst auf den hinteren Plätzen, ein anderer afrikanischer Autor galt da schon eher als Favorit. Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o, bei den Buchmachern seit Jahren als aussichtsreicher Kandidat gehandelt. Nun aber Gurnah, geboren 1948 auf der Insel Sansibar, seit Jahrzehnten beheimatet in England, wo er zuletzt als Professor für englische und postkoloniale Literaturen an der Universität Kent arbeitete. „Es war eine so große Überraschung, dass ich wirklich warten musste, bis ich die Bekanntgabe hörte, bevor ich es glauben konnte“, erklärte Gurnah gegenüber der BBC. Der Nobelpreisträger also selbst sah zu wie alle anderen, als der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, Mats Malm, den Namen verkündete und die Wahl begründete: Gurnah erhalte den Preis für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten.“

    Von Abdulrazak Gurnah wurden fünf Romane ins Deutsche übersetzt

    Wieder eine Überraschung also, wie schon im Vorjahr, als die wichtigste Literaturauszeichnung der Welt an die relativ unbekannte amerikanische Dichterin Louise Gluck ging. Ins Deutsche übersetzt wurden von Gurnah bislang fünf Romane, alle Ausgaben sind mittlerweile vergriffen. Aber auch das gehört zu Historie dieses Preises, macht seinen Wert ja aus: Dass mit seiner Bekanntgabe große Literatur von der einen Ecke der Welt in der anderen erst entdeckt wird. Gurnah ist der erste Afrikaner, der den

    Der frisch gebackene Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah.
    Der frisch gebackene Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah. Foto: Steve Parsons/PA Wire/dpa

    Insofern ist die Überraschung dann auch im englischsprachigen Literaturraum groß, aber eben nicht ganz so: Als Schriftsteller bekannt ist er dort spätestens seit 1994, als er für seinen Roman „Paradise“ auf der Shortlist für den Booker Preis stand („Das verlorene Paradies“), später auch mit „By The Sea“ („Ferne Gestade“).

    Wovon also erzählt der neue Literaturnobelpreisträger und wie? Zehn Romane hat er veröffentlicht, etliche Kurzgeschichten, verfasst auf Englisch und nicht Swahili, seiner Muttersprache. Die ehemalige Heimat aber, die Folgen der Kolonalisierung, die blutige Revolution 1964, das Leben zwischen zwei Welten ist immer wieder Thema für den Schriftsteller, auch in seinem zuletzt erschienenen Roman „Afterlives“ (2020). Gurnah verließ Sansibar mit 18 Jahren als Flüchtling, studierte in Großbritannien Literatur. Für zwei Jahre kehrte er noch einmal auf den afrikanischen Kontinent zurück, lehrte von 1980 bis 1982 an der Universität Kano in Nigeria, trat dann seine Stelle in Kent an, wo er als Literaturwissenschaftler sich neben den Werken von Salmon Rushdie und Wole Soyinka vor allem auch mit denen von Ngugi wa Thiong’o auseinandersetzte.

    Das Komitee rühmt seine Abneigung gegen Vereinfachungen

    Was das Nobelpreiskomitee rühmt: Seine Hingabe an die Wahrheit, seine Abneigung gegen Vereinfachungen, wie er seine Figuren und ihren Zustand zeichnet, deren „Zerrissenheit zwischen Kulturen und Kontinenten, zwischen einem Leben, das war, und einem Leben, das im Entstehen begriffen ist“. Seine Romane würden den Blick für ein vielfältiges Ostafrika öffnen, „das viele in anderen Teilen der Welt nicht kennen.“ Sein deutscher Übersetzer Thomas Brückner, der „Ferne Gestade“ und „Schwarz auf Weiß“ ins Deutsche übertrug, hob gestern gegenüber derDeutschen Presse-Agentur vor allem dessen hintersinnigem Humor hervor. „Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtung seiner Figuren.“

    Wie Gurnah zum Schriftsteller wurde? „Ein Fremder zu sein, meinen Weg zu finden, mein Zuhause verlassen zu haben, solche Dinge haben mich beeinflusst“, sagte er in einem Interview 2016. Aber: „Ich bin nicht wie Virginia Wolf, die schon im Alter von zehn Jahren wusste, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Ich habe mich einfach eines Tages dabei ertappt, wie ich Dinge aufschreibe“.

    Die englische Universität Kent reagierte gestern mit wiederum erwartbarem Überschwang. „Wir sind absolut begeistert, dass unserem ehemaligen Dozenten Abdulrazak Gurnah der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde – das ist wirklich inspirierend“, twitterte die Hochschule mit Sitz in Canterbury. Es gilt also mal wieder Weltliteratur zu entdecken - wenn auch derzeit nur auf englisch. Warum Gurnahs Werke hier nicht mehr verlegt werden, kann sich Übersetzer Brückner nur so erklären. Vermutlich hätten sie sich nicht so verkauft wie erhofft. Die Aufmerksamkeit, die er sich für den „lesenswerten Autor“ wünschte, seit gestern aber hat er sie.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden