Gleich zu Beginn der Ausstellung „Die Alchemie des Alltags“ steht man vor einer Wand, die zwei Meter hoch aufragt und sechs Meter in der Breite misst: Eine Wand nur aus Büchern von Rudolf Steiner – und die hier aufgereihten umfassen noch gar nicht einmal alle 350 Bände der Steiner-Gesamtausgabe. Fraglos ein Universum, dieses geistige Werk des vor 150 Jahren geborenen Begründers der Anthroposophie, und so hat das Kunstmuseum Stuttgart die zwei Sonderausstellungen, die sich gegenwärtig unter seinem Dach befinden, konsequenterweise unter dem Titel „Kosmos Rudolf Steiner“ zusammengefasst.
Natürlich lassen sich Steiners weit ausgreifendes Denken und sein auf viele Felder verteiltes Wirken in einer Ausstellung nicht erschöpfend darstellen. Auch wird man in der „Alchemie des Alltags“, die vom „Vitra Design Museum“ (Riehen bei Basel) konzipiert wurde, nicht so richtig darüber in Kenntnis gesetzt, was es mit der Anthroposophie nun eigentlich auf sich hat. Dafür aber bekommt man in dieser biografisch strukturierten Ausstellung vor Augen geführt, wie Steiners Theorien ihren Niederschlag in verschiedensten Lebensbereichen fanden. Auch ist zu erfahren, wie sehr Steiner doch ein Kind seiner Zeit war. Die Lebensreformbewegung um 1900, die der Industrialisierung und dem Wuchern der Städte ein Alternativprogramm entgegensetzte, hatte auch ihn erfasst. Hier, bei diesem Zurück-zur-Natur und den Tendenzen zu einer Neumystifizierung des Lebens, sieht die jüngere Steiner-Biografik Gründe für seine ungebrochene Wirkmacht.
Ein Festspielhaus für
die anthroposophische Bühne
Auf dem Gebiet der Architektur und des Designs misst die Ausstellung, die mit einer Vielzahl von Fotos und Originaldokumenten, Skizzen und Modellen aufwartet, ihrer Zielperson einen beträchtlich innovativen Stellenwert zu. Um 1910 setzte sich Steiner mit Planungen für ein Festspielhaus in München auseinander, dem sogenannten Johannesbau – ein Festspielhaus deshalb, weil der Bühnenkunst nach anthroposophischer Lehre fundamentale Bedeutung zukommt (Steiner selbst war Verfasser von vier Mysterien- dramen). Dieses nie realisierte Haus griff Formüberlegungen auf, die erst in dem ab 1913 in Dornach bei Basel entstandenen Bau des Goetheanums Gestalt fanden. Wie andere Architekten der Zeit – Gaudí etwa oder van de Velde – nahm Steiner Anleihen bei der organischen Welt, bei den „Kunstformen der Natur“ (Ernst Haeckel, 1904). Auch floss seine lebenslange Beschäftigung mit Goethe, besonders mit dessen Metamorphosenlehre, in die architektonischen Überlegungen mit ein.
Anstelle des Silvester 1923 einer Brandstiftung zum Opfer gefallenen ersten Goetheanums wurde ein (bis heute bestehender) Nachfolgebau errichtet, der nicht nur die damals neuartige Schalbetonbauweise für sich nutzbar machte, sondern auch von einem Stilwandel seines Schöpfers kündete. Kennzeichneten das erste Goetheanum mit seiner Doppelkuppel noch fließende Formen, so fand im neuen, rund 1000 Plätze umfassenden Goetheanum ein vieleckig-kristallines Gestaltprinzip seinen Ausdruck. Das wuchtige, expressionistische Gebäude steht in seiner skulpturalen Anmutung rein äußerlich den Architekturentwürfen eines Erich Mendelsohn und Bruno Taut nahe. Bei Steiner spielten in starkem Maße jedoch auch mystische und symbolische Bezüge eine Rolle in der Formgewinnung.
Der Architektur Steiners – nach seinen Richtlinien entstand in Dornach rund um das Goetheanum eine ganze Kolonie, weltweit das größte Ensemble expressionistischen Bauens – war ebenso wie seinen Möbel- und sonstigen Designentwürfen ein seltsames Nachleben beschieden. Innerhalb der anthroposophischen Gemeinde wurden weiter fleißig Häuser und Stühle mit geschwungenen Formen und abgeschrägten Ecken gefertigt – als habe Steiner ein dogmatisches Regelgerüst verfasst. Das lag ihm jedoch, so sehen es die Ausstellungsmacher, nicht im Sinn. Die Konservierung der Stilprinzipien verhinderte eine Weiterentwicklung. Für Architekten und Designer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Steiner daher von eher nachrangiger Bedeutung. Gleichwohl ist seine Bedeutung als Vorläufer organischen Gestaltens, wie es gerade in jüngerer Zeit wieder in den Fokus architektonischer Konzepte gerückt ist, nicht zu bestreiten.
Zeitgleiche Gedanken, unmittelbarer Einfluss
Doch keineswegs nur für die Baukunst, auch für andere Kreativbereiche gilt, dass wenige Künstler sich ausdrücklich auf Steiner berufen. Offenkundig aber bestehen Parallelen zwischen anthroposophischen Gedanken und künstlerischen Programmen, etwa dort, wo Künstler sich die Sensibilisierung für Begleiterscheinungen der Globalisierung auf die Fahnen geschrieben haben. Ob nun solch vergleichbare gedankliche Stoßrichtung oder doch unmittelbarer Einfluss durch Steiner vorlag, spielte für die Auswahl der Künstler in der zweiten (mit dem Kunstmuseum Wolfsburg kuratierten) Ausstellung des Stuttgarter Kunsthauses, betitelt „Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart“, keine maßgebliche Rolle.
So vereint die Schau solch unterschiedliche Namen wie Joseph Beuys und Anish Kapoor, Olafur Eliasson und Mario Merz, Tony Cragg und Carsten Nicolai. Erfrischend zu sehen, dass die Auseinandersetzung mit Steiner, wo sie dezidiert stattfindet, auch Anlass zu Humor bieten kann. Manuel Graf (*1978) lässt in seiner Videoarbeit „Buchtipp“ einen Anthroposophie-Apologeten Ausführungen darüber machen, wie gefärbtes Wasser, wenn es in ruhendes Wasser einfließt, die Gestalt eines Kehlkopfs (!) annimmt.
Bis 22. Mai, Di. bis So. 10–18 Uhr, Mi. und Fr. bis 21 Uhr