Der Mitbegründer der Friedensbewegung Peace Now genießt international hohes Ansehen. Auch in diesem Jahr gehörte der 70-Jährige ("Verse auf Leben und Tod") zu den Favoriten für den Literaturnobelpreis. Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa warnt Oz, der 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, vor einer Atom-Macht Iran. Er beschreibt seine Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern in zwei Staaten und berichtet, wie er über die Literatur seinen Frieden mit Deutschland gemacht hat - und warum die Beziehung zwischen Deutschen und Israelis nie eine vollkommen "normale" wird sein können.
Was sagen Sie zur diesjährigen Gewinnerin des Literaturnobelpreises, der deutschen Autorin Herta Müller? Sind Sie enttäuscht, dass nicht Sie ausgewählt worden sind?
Oz: "Es tut mir wirklich Leid, aber ich kenne Herta Müller überhaupt nicht. Ich habe nie von ihr gehört, ich habe keines ihrer Bücher gelesen. Das bereue ich jetzt. Ich kann die Wahl deshalb nicht kommentieren. Was mich angeht: Ich bin nicht enttäuscht, weil ich keine Erwartungen hatte."
Wie stehen Sie zu deutscher Literatur?
Oz: "Die Literatur-Szene in Deutschland ist faszinierend. Sie ist lebendig und voller interessanter Stimmen. Seit der Generation von Grass, Böll und Siegfried Lenz bin ich fasziniert von deutscher Literatur. Diese Autoren haben mich verändert. Als ich ein Kind war, war ich extrem gegen Deutschland eingestellt. Ich dachte, ich würde niemals nach Deutschland reisen und ich wollte niemals einen Deutschen treffen. Aber diese große Autoren der 1950er Jahre haben mein Herz verändert. Sie haben mir ein ganz anderes Deutschland gezeigt und haben bewirkt, dass ich das Land vielschichtiger wahrgenommen habe. Ich glaube, ich bin durch die Literatur ein Freund des Landes geworden."
Wie haben Sie Ihre Skepsis gegenüber Deutschland und seiner Literatur überwunden?
Oz: "Die großen Schriftsteller wurden übersetzt. Und ich war sehr neugierig. Ich meine, ich konnte deutsche Elektrogeräte boykottieren, aber nicht deutsche Bücher. Wenn ich die Bücher boykottiert hätte, dann wäre ich ja wie sie gewesen. Also habe ich die Bücher gelesen, und sie haben mein Herz geöffnet."
Wie fühlt es sich heute für Sie an, in Deutschland zu sein?
Oz: "Das ist keine einfache Frage. Ich bin seit meiner ersten Reise nach Deutschland 1982 sehr oft hierhergekommen. Wenn ich hier bin, funktioniere ich tagsüber vollkommen normal. Ich spreche mit den Leuten, ich habe viele Freunde hier. Aber nachts, da habe ich bis heute oft Probleme, einzuschlafen. Das passiert mir nur in Deutschland und Österreich, in keinem anderen Land. Da scheint etwas tief in meiner Seele, in meiner Psyche zu sein, das immer noch nicht völlig ruhig ist, wenn ich hier bin. Ich weiß nicht, was es ist. Ich liege nicht in meinem Bett und denke an den Holocaust. Aber da ist eine Art Druck oder Stress, den ich in mir fühle."
Wie nehmen die Menschen in Israel Deutschland heute wahr?
Oz: "Es ist unmöglich, das zu vereinheitlichen. Sie werden niemals zwei Israelis finden, die zu einem Thema vollkommen das Gleiche denken. Offen gesagt ist es sogar schwer, einen Israeli zu finden, der mit sich selber übereinstimmt, denn jeder hat eine gespaltene Meinung und eine gespaltene Seele. Ich würde sagen, dass Israelis Deutschland in einer sehr intensiven Beziehung gegenüberstehen. Es ist nicht einfach ein ganz normales ausländisches Land, und ich glaube, das wird es für die meisten Israelis auch nie sein."
Gerade junge Menschen sagen: "Das alles liegt so lange zurück, was habe ich damit noch zu tun?" Sollten Deutsche und Israelis heute anders aufeinander zugehen?
Oz: "Ich glaube nicht, dass die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen jemals vollkommen normal sein können. Und sie sollten das auch gar nicht. Sie sollten intensiv sein. Beide Seiten sollten intensiv eingebunden sein. Tiefe Beziehungen, aber keine Normalität. Nicht die Normalität, die zwischen Deutschland und Neuseeland oder Deutschland und Paraguay besteht. In der Beziehung zwischen Deutschland und jüdischen Menschen wird es immer eine andere Qualität geben. Und so sollte es auch sein. Denn es sind ja auch viele jüdische Gene in der deutschen Kultur. Und es sind viele deutsche Gene in der jüdischen Kultur. Es war eine unglückliche Ehe, die in einem kolossalen Verbrechen endete, aber es war eine Ehe. Das sollten wir niemals vergessen."
Wie meinen Sie das, eine Ehe?
Oz: "Die Juden haben ihren Fingerabdruck in Deutschland hinterlassen. Deutschland wäre ohne die Juden heute nicht das, was es ist. Und genauso ist es auch andersherum. Wenn ich mir die Architektur in Jerusalem und Tel Aviv ansehe, dann sehe ich das deutsche Bauhaus. Wenn ich die israelische Literatur lese, erkenne ich tiefe Einflüsse aus der deutschen Literatur vor dem Krieg. Wenn ich israelische Musik höre, höre ich den tiefen Einfluss deutscher Musik. Die Gene sind auf beiden Seiten. Es ist keine normale Beziehung, und die wird es niemals sein."
Wie sollte sich Deutschland demnach ihrer Meinung nach im Nahost- Konflikt positionieren?
Oz: "Deutschland hat dasselbe Recht, Israel zu kritisieren, wie jedes andere Land und jeder Mensch auch. Vielleicht wäre es aber weise, wenn Deutsche ein bisschen taktvoller wären, wenn sie Israel kritisieren. Aber das ist ihre Sache."
Wie hat sich die Stimmung in Israel seit den Wahlen im Februar entwickelt?
Oz: "Es ist schwer zu sagen, was die neue, rechte Regierung in Zukunft tun wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass frühere rechte Regierungen in Israel bedeutende Schritte in Richtung Frieden unternommen haben. Ich will nicht ausschließen, dass diese Regierung uns überraschen kann."
Inwieweit ändern die Machtdemonstrationen aus dem Iran die Einstellung der Menschen zum Friedensprozess?
Oz: "Die Menschen sind nervös wegen des Iran. Und sie haben Recht, denn die Führer des Iran sagen ganz offen, dass Israel zerstört werden und von der Erdoberfläche verschwinden soll. Aber die meisten Israelis sind denke ich der Meinung, dass der Iran nicht nur ein israelisches Problem ist. Es ist ein Problem der ganzen Welt. Dieses Problem sollte nicht von Israel, sondern von der ganzen Welt gelöst werden. Am besten auf diplomatischem Wege, wenn das möglich ist."
Wie sollte die Welt auf die Bedrohungen aus dem Iran reagieren?
Oz: "Die Welt muss sehr streng darauf bestehen, dass Iran keine nukleare Macht entwickelt, weil nukleare Macht in der Hand von Fanatikern für die ganze Welt gefährlich ist."
Denken Sie, jungen Menschen in Israel wird durch den Konflikt ein Teil ihrer Jugend geraubt? Sind sie anders als Gleichaltrige zum Beispiel in Deutschland?
Oz: "Ich glaube, sie sind sehr leidenschaftlich. Das liegt zum Teil daran, dass sie in einer schwierigen, schmerzhaften Realität aufgewachsen sind, unter konstanter Bedrohung, Instabilität und Unsicherheit. Das hinterlässt vielleicht eine Narbe auf ihren Seelen."
Was wünschen Sie Ihren Enkelkindern?
Oz: "Ich wünsche Ihnen, dass im Nahen Osten endlich Frieden herrscht. Das ist der größte Wunsch meines Lebens und dafür kämpfe ich seit 50 Jahren. Ich wünsche mir, dass es einen Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern gibt. Aber dafür muss man hart arbeiten."
Waren Sie nicht schon einmal kurz davor, die Hoffnung auf Frieden aufzugeben?
Oz: "Warum sollte man die Hoffnung aufgeben? Es gibt keine Alternative zum Frieden. Und das Gute ist, dass die meisten Israelis und Palästinenser mittlerweile verstanden haben, dass es am Ende des Tages zwei Staaten geben wird - Israel neben Palästina. Sie wissen das. Ob sie glücklich darüber sein werden? Ob sie vor Freude auf den Straßen tanzen werden? Nein, das werden sie nicht. Aber sie wissen es jetzt. Das ist ein guter Anfang. Jetzt ist es eine Frage der mutigen Führung auf beiden Seiten, das auszuführen, was die Menschen in ihren Herzen schon wissen."
Was wünschen Sie sich mit Blick auf Deutschland für die Zukunft?
Oz: "Ich wünschte, dass die Deutschen - jung und alt - nicht nur an den Konflikt denken würden, wenn sie an Israel denken. Ich wünschte, sie wären neugierig auf die israelische Kultur, die Literatur, das Kino und die Zivilisation. Wie ich schon sagte, es gibt eine Beziehung zwischen den Kulturen. Deshalb glaube ich auch, es sollte so viele Übersetzungen vom Hebräischen ins Deutsche und andersherum geben, wie möglich. Auf beiden Seite sollte Offenheit und Neugierde sein. Bücher sind die besten Priester. In meinem Fall waren es Bücher, die die emotionale Barriere zu Deutschland zerstört haben. Lasst uns die Bücher des Anderen lesen, die Filme des Anderen anschauen, die Kultur des Anderen absorbieren - ich glaube, so würden wir beide sehr viel gewinnen."
Interview: Britta Gürke, dpa