Kein anderes Presseerzeugnis polarisiert mehr als die Bild-Zeitung. Und das schon seit vielen Jahrzehnten. „Enteignet Springer“, forderte die Studentenbewegung 1968 und verhinderte nach den Schüssen auf Rudi Dutschke mit gewaltsamen Protesten die Auslieferung der Bild, die eine publizistische Hetzkampagne gegen den Studentenführer gestartet hatte. Fünfzig Jahre und viele Imagekampagnen später ist es der Boulevard-Zeitung gelungen, ihre journalistische Macht als auflagenstärkste europäische Tageszeitung kontinuierlich auszubauen.
Nun hat ein Filmteam im Auftrag von Amazon Prime über mehrere Monate Zugang zu den Redaktionsräumen bekommen. Anders als Günther Wallraff, der sich 1977 undercover ins Blatt einschleuste, arbeiten die Filmemacher von „Bild. Macht. Deutschland“ mit dem Segen des Hauses Springer. Über sieben lange Episoden bietet die Serie einen hautnahen Einblick vom Redaktionsgeschehen. Dass das Ganze inmitten der Corona-Pandemie geschieht, die Bild-Chef Julian Reichelt als „größte Nachrichtenlage aller Zeiten“ feiert, verleiht der Dokumentation Aktualität.
"Warum trauen wir diesem Wuschelkopf?", fragt der Bild-Chef
Reichelt ist ein ruheloser Antreiber, fühlt sich sichtlich wohl in dieser Position und hat auch vor der Kamera die größten Redeanteile. Seine strotzende Führungskraft und strahlende Selbstgefälligkeit wird auch zum problematischen Energiezentrum der Dokumentation, die das Phänomen Bild fleißig ausleuchtet, aber nie kritisch befragt. Das wird besonders deutlich, wenn das Blatt auf Geheiß seines Chefredakteurs den Immunologen Drosten ins Visier nimmt. „Warum trauen wir diesem Wuschelkopf?“, fragt Reichelt in die Konferenzrunde. Aus der rhetorischen Frage entsteht eine Kampagne, die gründlich nach hinten losgeht, weil sich mehr Menschen hinter Drosten stellen als erwartet und auch die von Bild zitierten Wissenschaftler sich von dem Vorgehen distanzieren. Letzteres erfährt man in der Doku übrigens nicht.
Das Vorgehen ist symptomatisch für die Dokumentation, die vor lauter Begeisterung, dass sie in die Gemächer vorgelassen wurde, nur aus der Innenperspektive ihres Sujets berichtet und auf einordnende Außenkommentare weitgehend verzichtet. Deutlich wird dagegen, welche journalistische und politische Macht die Bild-Zeitung hat. Minister wie Heiko Maas und Jens Spahn geben sich im goldglitzernden Springer-Gebäude die Klinke in die Hand, wenn es darum geht, im neuen Bild-TV-Format Rede und Antwort zu stehen. Reichelt wird vom Innenminister zu einem Geheimtreffen eingeladen und Bild darf als erstes Medium live von der Anti-Terror-Razzia gegen die frisch verbotene Hisbollah berichten. Seehofer hat seine PR, Reichelt seine Exklusiv-Story. Eine Win-win-Situation, sagt man heute. Früher hieß es: Eine Hand wäscht die andere.
Die Spitzen von Dortmund und Bayern bei Bild
Ähnliches gilt, wenn Reichelt in den Redaktionsräumen den Gesundheitsminister und die Chefs der Fußballvereine Borussia Dortmund und Bayern München an einen Tisch bringt. Als selbstloser Vermittler in Sachen Geisterspiele stellt der Bild-Chef sich dar. Dass das Blatt, das seinen wesentlichen Umsatz mit der Sportberichterstattung macht, hier auch durchaus eigennützige Interessen vertritt, wird nicht erwähnt. Auch um die grundsätzliche Frage, womit Bild seine Position in der Presselandschaft verdient hat und was das über dieses Land aussagt, wird ein riesengroßer Bogen gemacht. Kein Politiker will sich heute mit der Bild anlegen – und die Filmemacher wollen es erst recht nicht.
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