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60. Geburtstag: Lyriker Durs Grünbein: Wie man wurde, was man ist

60. Geburtstag

Lyriker Durs Grünbein: Wie man wurde, was man ist

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    "Viel in Gedanken": Lyriker Durs Grünbein.
    "Viel in Gedanken": Lyriker Durs Grünbein. Foto: Timo Lindemann, dpa

    Mit dem ein wenig sperrig geratenen Titel „Äquidistanz“, der nicht nur dem aktuellem Gedichtband voransteht, sondern ebenso dem letzten der darin enthaltenen 118 Gedichte, mit dieser „gleichen Distanz“ zu den Phänomenen unserer Welt voller Gegensätze bringt Durs Grünbein sein poetologisches Prinzip auf den Begriff. Schon in der Kindheit zeigte sich ihm dafür eine Disposition, die zu gar nichts anderem führen konnte als zum Dichterberuf. „,Du bist gar nicht ganz da’ – das war ein Satz, / den er oft hören musste, wehrloser Träumer, / Lehrer sagten ihn, seine Mutter, Freunde …“ Wo war er denn, der Dichter als Schüler? „Viel in Gedanken“, „mitten im Dickicht der Erscheinungen“, „zwischen den Polen, den Thesen, den Fronten / in mittlerem Abstand“ – eben in „Äquidistanz“, aus der er, wie es in der letzten Zeile heißt, „eines Tages anfing, Gedichte zu schreiben.“

    Ein faszinierendes Werk ist seither entstanden, gedruckt mitzuverfolgen seit dem ersten Gedichtband „Grauzone morgens“ (1988), und längst wird der gebürtige Dresdner Grünbein nicht mehr nur seiner Lyrik wegen geschätzt, sondern auch als profunder Essayist und stilbewusster Prosaschriftsteller. Das Zentrum seines Schreibens ist jedoch immer die Lyrik geblieben, was schon an der überbordenden Produktion offenbar wird – „Äquidistanz“ ist Grünbeins zwölfter Gedichtband, wohlgemerkt nach strenger Zählung, denn in vielen weiteren Veröffentlichungen dieses Autors findet sich ebenfalls Lyrisches zuhauf.

    Durs Grünbeins Sprachfluss macht es dem Leser leicht

    Was Grünbeins Verse immer schon kennzeichnete, ist auch in den neuen Gedichten zu bewundern. Die Kunst dieses Dichters besteht nicht, wie bei vielen anderen Lyrikern, in der äußersten Verknappung und Verdichtung des Sprachmaterials, sondern geradezu im Gegenteil davon – in einem rhapsodisch fließenden, sich in langen Zeilen elegant fortbewegendem Duktus, in dem der Endreim nur selten zum Einsatz kommt und Zusammenhalt statt dessen durch feingesponnene Rhythmisierung und sparsam gesetzte Gleichlaute entsteht. Grünbein zu lesen ist auf der syntaktischen Ebene nicht schwierig, der Leser flaniert im Sprachtempo des Dichters am jeweils gesetzten Thema entlang, um hie und da dann doch innezuhalten und genauer hinzuschauen.

    Das Flanieren findet sich bei Grünbein aber seit jeher auch auf inhaltlicher Ebene, ist der Dichter doch ein erklärter Städtedurchwanderer. Ein Flaneur, dem keineswegs nur in Rom – wo er, neben Berlin, schon seit längerem lebt – beim Streifen durch Straßen und über Plätze, in lauten ebenso wie in vergessenen Ecken, das Vergangene lebendig wird. Und dem auch das Personal, ob namhaft oder namenlos, das einst dieselben Wege ging, regelrecht entgegentritt. Denn die Literaten, Künstler und Intellektuellen, führt Grünbein uns vor, begegnen uns nicht nur im Staub der Bibliotheken und Museen, sie sind auch auf den Straßen von heute unter uns. „Hier ging einst Benjamin, und dort / nahm Kracauer die Unterführung“, heißt es im Gedicht über Berlins Krumme Straße. Bildungshuberei, wie Grünbeins Lyrik gern vorgeworfen wird? Von wegen. „Hier war es, hier, hier und hier, flüstern / die Stolpersteine vor jedem zwölften Haus“, heißt es in einem anderen Gedicht. Die temporeiche „hier“-Wiederholung bildet das Entsetzen über die Dimension des braunen Terrors eindrücklich ab.

    Mit Paul Celan gegen die Leugner

    Überhaupt ist Grünbein bei aller Vergegenwärtigung des Vergangenen, die ihn auch zu einem modernen Bewohner der Antike hat werden lassen (der römischen insbesondere), ein hellwacher Betrachter der Jetzt-Zeit. Eintrübungen des öffentlichen Diskurses nimmt er mit seismografischen Gespür wahr, so im Gedicht „Messer im Hirn“, dem ein Motto von Paul Celan vorangestellt ist: „Ich sehe das Gift blühn. / In jederlei Wort und Gestalt.“ Auch Grünbein nimmt es wahr, als lyrischer Zuhörer: „Da ist kein Grab, sagen sie. / Da war nichts, niemand war da.“ „Sie“, das sind die Leugner, und es ist eine besondere Volte des Lyrikers Grünbein, dass er solche Leugnerei mit einer Wortfügung aus Celans berühmtestem Gedicht ad absurdum führt: Kein Grab – wie anders auch, wo doch das Grab von Millionen Toten „in den Lüften“ (Celans „Todesfuge“) war?

    Anderes ist aus anderen Gründen von bestürzender Aktualität, vielleicht war das dem Dichter beim Schreiben noch gar nicht bewusst. „1962“ lautet schlicht der Titel eines Gedichts, das folgendermaßen beginnt: „Das war das Jahr der Oktoberkrise, / der Härtetest / für die Kalten Krieger in Ost und West …“ Der Oktober der Kubakrise, als die Welt vor einem atomar geführten Weltkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion stand. Man liest Verweise auf dieses einstige Fünf-vor-zwölf-Szenario in heutigen Tagen mit gesteigerter Aufmerksamkeit, auch solch unerwartete Zeilen wie in der dritten Strophe: „Das Jahr, als zum ersten Mal / Arbeiter streikten im Sowjetreich / (weit hinten in Nowotscherkassk) / wovon die Welt beinah nichts erfuhr“. Dichtung kann da Nachhilfe leisten.

    1962 war auch der „Härtetest … für Rosemarie, meine Mutter, / die ihr Baby gebar.“ An diesem 9. Oktober wird Durs Grünbein, der Dichter einer skeptischen „Äquidistanz“ zwischen „den Polen, den Thesen, den Fronten“, 60 Jahre alt.

    Durs Grünbein: Äquidistanz. Gedichte. Suhrkamp, 188 S., 20 €.

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