Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

250 Jahre "Schneider von Ulm": Ulm feiert einen Pionier und tragischen Versager

250 Jahre "Schneider von Ulm"

Ulm feiert einen Pionier und tragischen Versager

    • |
    An der Stelle, wo einst "der Schneider von Ulm" abhob und in der Donau landete, steht nun der nach ihm benannte Berblinger-Turm.
    An der Stelle, wo einst "der Schneider von Ulm" abhob und in der Donau landete, steht nun der nach ihm benannte Berblinger-Turm. Foto: Dagmar Hub

    Was wäre gewesen, wenn? Wenn der württembergische König Friedrich I. nicht von solcher Leibesfülle gewesen wäre? Dann hätte er bei seinem Ulm-Besuch 1811 den Weg auf den Michelsberg unternehmen können – dorthin, wo es dem Schneidermeister Albrecht Ludwig Berblinger gelungen war, mit seinem selbst gebauten Flugapparat durch die Luft zu gleiten. Oder wenn die Ulmer Stadtherren Berblingers Vorschlag zugestimmt hätten, vom damals etwa hundert Meter hohen Münsterturm herab seine Flugkünste zu demonstrieren? Am Münsterturm herrschen Aufwinde, die Berblinger im Flugverhalten der Vögel oft von seiner Werkstatt am Münsterplatz aus beobachtet hatte. Vielleicht wäre alles gut gegangen und

    Der ganz brutale Absturz kam danach

    Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Berblingers – wegen des Besuchs des extrem fülligen Königs – an die Donau verlegter Flugversuch scheiterte, und das auch noch am Tag nach der Abreise des Königs, und auch wenn der nasse Erfinder lebend aus dem Donauwasser gezogen wurde: Der eigentliche, der ganz brutale Absturz war nicht der, den die kalten Fallwinde über der Donau an jenem 31. Mai 1811 verursachten. Der ganz brutale Absturz kam danach.

    Berblinger, bis dahin ein angesehener und der Zunft angehörender Schneidermeister, wurde zur Spottfigur. Alte Ulmer Postkarten zeigen ihn hilflos und ungeschickt in den Fluss stürzend. „Der Schneider von Ulm hat’s Fliegen probiert, do hat ihn der Teufel in d’ Donau nei g’führt“, hieß es. An Berblinger klebte der Ruf des Versagers, und man distanzierte sich – selbst blamiert – und mied seine Schneiderwerkstatt. Berblinger starb knapp 18 Jahre nach jenem fatalen Tag, verarmt, aus der Gesellschaft gefallen und bereits vorher „civiliter mortuus“, seiner bürgerlichen Rechte beraubt und „für todt angesehen“, wie es in einem alten Wörterbuch heißt.

    Durch die Blamage geriet sein Genie ins Vergessen

    Wie viel durch dieses Schicksal verloren ging? Berblinger war von Mechanik fasziniert gewesen, er erfand unter anderem eine „Fußmaschine“, die erste Beinprothese mit Gelenk, die Amputierten wieder zu laufen half. Den wohl ersten Kinderwagen mit Rädern hatte der Tüftler unter anderem entworfen. Doch das geriet angesichts der Blamage in Vergessenheit.

    Wie geht eine Stadt mit einer solchen Persönlichkeit um? 1986, anlässlich des 175. Jahrestages von Berblingers gescheitertem Flugversuch über die Donau, rehabilitierte Ulm Berblinger ein Stück weit mit einem Flugwettbewerb, in dessen Verlauf einem Teilnehmer der Gleitflug über die Donau mit einem Hängegleiter gelang. Am 24. Juni 2020 nun liegt Berblingers Geburt – als siebtes Kind eines Amtsknechts – 250 Jahre zurück. Ulm unternimmt es in diesen Wochen ernsthaft, den Flugpionier unter den Namen großer Persönlichkeiten zu etablieren, die in der Stadt geboren wurden: Berblinger zu Ehren hat sich das Ulmer Donau-Ufer verändert.

    Nun gibt es den Berblinger-Turm

    Die Stadt errichtete in diesen Tagen an der Adlerbastei, wo bisher nur eine in den Boden eingelassene Platte an den Flugversuch erinnerte, einen ästhetischen, luftigen Turm, der am Tag nach Berblingers 250. Geburtstag eingeweiht werden wird. Am Mittwoch dieser Woche wurde er fertig montiert. Das Münchner Künstlerduo Johannes Brunner und Raimund Ritz entwarf das Kunstwerk, und Ulm nahm das Geld in die Hand, den schwindelerregend sich in die Höhe schraubenden Entwurf einer in die Luft führenden Wendeltreppe zu realisieren. Zehn Grad über die Donau geneigt, in der Farbgebung an Berblingers Flugapparat orientiert, wird der bis zum Podest in 20 Metern Höhe begehbare Turm dem Besucher vermitteln, den Lüften anvertraut zu sein – und die Besteigung wird über eine Klanginstallation zudem zum Hörerlebnis. Solange die Corona-Pandemie andauert, werden sich aber nur jeweils wenige Besucher gleichzeitig auf dem Turm aufhalten können.

    Corona-Pandemie durchkreuzt die Jubiläumspläne

    Die Pandemie zwang Ulm, mehrere kulturelle Events zu verschieben, die zu Berblingers Geburtstag geplant gewesen waren. Seit einigen Tagen jedoch läuft bereits eine Ausstellung im Ulmer Stadthaus, für die das in Berlin lebende renommierte Bühnenbildner-Paar Timo Dentler und Okarina Peter das gesamte Stadthaus mit einer Ausstellungsfläche von über 900 Quadratmetern von Untergeschoss bis unters Dach bespielen.

    Timo Dentler und Okarina Peter haben die Berblinger-Ausstellung konzipiert.
    Timo Dentler und Okarina Peter haben die Berblinger-Ausstellung konzipiert. Foto: Dagmar Hub
    Hier wird in der Ausstellung die feuchte Landung im Kiesbett nachgestellt und der Zuschauer kann sich in Berblingers Lage versetzen.
    Hier wird in der Ausstellung die feuchte Landung im Kiesbett nachgestellt und der Zuschauer kann sich in Berblingers Lage versetzen. Foto: Dagmar Hub

    Timo Dentler ist der Sohn des 2006 verstorbenen Goldschmieds und „Königs von Ulm“ Rudolf Dentler. Und vielleicht liegt es an Timo Dentlers Ulmer Kindheit als Sohn eines von manchen als skurril empfundenen Kreativen, dass er und Okarina Peter diese Schau „Die Welt, ein Raum mit Flügeln“ mit viel Liebe, Wissen und Fantasie als geniale Hommage an das Visionäre im Menschen gestaltetet haben – ausschließlich mit analogen Mitteln. Der „Hämetunnel“ lässt fühlen, wie es gewesen sein mag nach der Bruchlandung im Wasser, zwischen Kies und Müll, mit auf Schwäbisch schimpfenden Stimmen von oben.

    Der Besucher kann sich mittels Spiegeln auf dem Mars wähnen, wo er scheinbar eine Fahne mit Berblingers Farben in den Planetenboden stecken kann, er kann Juri Gagarin vor dem Start der allerersten Weltraummission gegen die Angst ansingen hören – und ganz oben unterm Stadthausdach sieht er im Blau des Himmels die Weltkugel von außen. Der Münsterturm spiegelt sich bei gutem Wetter darin.

    Ausstellung: „Die Welt, ein Raum mit Flügeln“ ist noch bis 25. Oktober im Stadthaus Ulm zu sehen. Mehr Infos: berblinger.ulm.de

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden