Komm! ins Offene, Freund! – In Tagen wie diesen, in denen die Losung lautet, doch möglichst zu Hause zu bleiben, muss dieses berühmte Wort von Friedrich Hölderlin höchst unzeitgemäß erscheinen. Andererseits ist uns allen im Augenblick doch Lektüre als Abhilfe unseres unfreiwilligen Nichtstuns anempfohlen, und weshalb da nicht zu diesem Dichter greifen, den wohl der Nimbus des Klassikers umweht, dessen Werk jedoch – Hand aufs Herz – so richtig bekannt nicht ist?
Gewiss, manches von ihm ist Bestandteil unseres Zitatenschatzes, die Wendung von der „bleiernen Zeit“ etwa oder ein Vers wie „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ oder die eingangs genannte Eröffnung des Gedichts „Der Gang aufs Land“. Aber wer hat sie wirklich gelesen, die großen Hymnen und Elegien Hölderlins? Zunächst sind es ja auch wirklich sperrige Gebilde, jede übliche Gedichtlänge sprengend, reimlos und kühn in der grammatikalischen Zurichtung – und, bei allem Aufscheinen betörend sinnlicher Naturbilder, überquellend von weit ausgreifenden philosophischen Erwägungen und mythologisch-religiösen Rückbesinnungen auf die Antike.
Dass Hölderlin zum Autor solch gedankengesättigter Lyrik wurde, kam nicht von ungefähr. Vor 250 Jahren, am 20. März 1770, in Lauffen am Neckar geboren und aufgewachsen in Nürtingen, entstammt er dem pietistisch geprägten Milieu. Früh vaterlos geworden, verfügt die Mutter, dass ihr Spross Pfarrer werden soll, und so ist der Weg des jungen Hölderlin erst einmal vorgezeichnet. Er besucht die Klosterschulen in Denkendorf und Maulbronn und zieht schließlich ein danach ins Tübinger Stift, um vollends zum Priesterberuf befähigt zu werden. Doch gerade dieser Ort ist zu dieser Zeit, in den 1780er/90er Jahren, ein Brennpunkt des geistigen Aufbruchs. Hölderlins Mitschüler im Stift sind Hegel und Schelling, die nachmalen jeder für sich der Philosophie ihren Stempel aufdrücken werden, sich in Tübingen jetzt aber erst einmal im Dreierbund mit Hölderlin entzünden für Kants Aufbruch in die selbstbestimmte Mündigkeit und Spinozas pantheistische Durchdringung der Welt. Gemeinsam verfasst das Trio das sogenannte älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus.
Die große Liebe ist Liebe verheiratete Frau
Aber Hölderlin, ebenso wenig wie Hegel und Schelling, will nicht Pfarrer werden, sondern für die Dichtung leben, die er schon seit früher Jugend betreibt. Wovon jedoch leben? Die Anstellung als Hauslehrer, damals Hofmeister genannt, scheint ein Ausweg zu sein. Er wird Erzieher bei der Schiller-Freundin Charlotte von Kalb und später im Hause des Frankfurter Bankiers Gontard. In dessen Frau Susette, die er unter dem Namen Diotima in Gedichten und in seinem einzigen, in Griechenland spielenden Roman „Hyperion“ spiegeln wird, verliebt er sich, und die Gefühle werden erwidert. Doch das Verhältnis bleibt nicht geheim, es kommt zum Hinauswurf Hölderlins.
Unerreichbar die ersehnte Frau, als Dichter nur von wenigen wahrgenommen, ökonomisch in ungesicherten Verhältnissen, dazu die politische Situation in den deutschen Landen, in denen die Fürsten nicht wie in Frankreich von der Revolution fortgespült werden: ungünstige Faktoren, die an dem sensiblen Hölderlin nagen. Und doch entstehen nun die großen Hymnen und Elegien, umfangreiche Strophenfolgen wie „Der Rhein“, „Friedensfeier“ oder „Patmos“. Hier weitet er konkret gefasste Momente zu Beschwörungen wieder aufziehender antiker Götterwelten und freiheitlich sich entfaltender Gemeinschaft. „Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen“, dichtet Hölderlin.
Sein letzter Versuch als Hofmeister führt ihn nach Frankreich. Im Winter 1801/1802 bricht er zu Fuß nach Bordeaux auf zur Familie eines deutschen Konsuls, doch hält es ihn auch dort nicht lange. Auf dem Rückweg erfährt er vom Tode Susette Gontards, eine Nachricht, die seine seelische und geistige Zerrüttung weiter vorantreibt. Ein Freund verschafft ihm noch die Stelle eines Hofbibliothekars beim Landgrafen von Hessen-Homburg. 1806 schließlich ist Hölderlins Verfassung so bedenklich, dass er nach Tübingen in eine eben eröffnete psychiatrische Klinik verbracht wird.
Hölderlin ist hier gerade mal, in den Worten seines wohl berühmtesten Gedichttitels, an der „Hälfte des Lebens“ angekommen. Den als „unheilbar“ aus der Klinik wieder Entlassenen nimmt ein Tübinger Schreinermeister, der den Roman „Hyperion“ gelesen hat, zu sich und seiner Familie auf und richtet ihm in einem runden Turm an der alten Stadtmauer ein Zimmer ein. 36 Jahre lebt Hölderlin in diesem „Turmzimmer“ mit Blick auf den Neckar unter ihm. Er schreibt weiter Gedichte, die aber nicht mehr den früheren Höhenflügen gleichen, jetzt auch kompakt gebaut und nicht selten mit fiktiven Daten und dem erfundenen Namen „Scardanelli“ unterzeichnet sind. Friedlich stirbt Hölderlin im Sommer 1843.
1943 ziehen Soldaten mit Hölderlin in die Schlacht
Sein großer Ruhm, seine Wertschätzung als einer der größten Dichter deutscher Sprache setzt erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, als Norbert von Hellingrath das Gesamtwerk des Dichters herausgibt. Doch wird Hölderlin nun auch zusehends vereinnahmt, erst von der völkischen Rechten, die seine vaterländischen Gesänge missdeutet – die Nazis bestücken 1943 Soldaten gar mit einer Feldausgabe seiner Gedichte –, später dann von der Linken, die in ihm einen Jakobiner zu erkennen glaubt und seine Zerrüttung als Reaktion seines Leidens an den starren deutschen Verhältnissen deutet.
Derlei Vereinnahmungen sind mittlerweile Geschichte. Was bleibt, ist das Werk eines Dichters, dessen Klang- und Sinngebilde, so man sich von ihnen mitreißen lässt, immer noch, um noch mal ein Wort Hölderlins aufzugreifen, „trunken“ zu machen vermögen. „Trunken“ vor Literatur – nicht die schlechteste Eigenschaft in kulturell mageren Zeiten wie den gegenwärtigen.
Zum Weiterlesen:
- - Rüdiger Safranski: Hölderlin. Hanser, 336 S., 28 €
- - Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister. Hanser, 240 S., 22 €