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200. Geburtstag: Fiebriger Geniestreich

200. Geburtstag

Fiebriger Geniestreich

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    Aug' in Aug' mit Richard Wagner. Eine Aufnahme von 1877.
    Aug' in Aug' mit Richard Wagner. Eine Aufnahme von 1877. Foto: dpa

    Und wenn einer noch so sorgfältig auswählt: Ist künstlerisches Genie allein an einem Gemäldeausschnitt, allein an einer Romanseite, allein an ein paar Noten Musik festzumachen? Oder braucht es dazu nicht notwendigerweise eine Werkauswahl, wenn nicht gar ein Oeuvre?

    Zumindest gibt es Kristallisationspunkte von Genialität. Beispiel Richard Wagner: Unter Verkürzung, unter Vereinfachung und mit ein wenig Unschärfe lässt sich ein guter Teil seiner musikalischen Genialität an einem einzigen Akkord darlegen, am so genannten „Tristan-Akkord“. Dessen Qualität soll hier – verkürzt, vereinfacht, ein wenig unscharf – auch dem erklärt werden, der keine Noten lesen und diesen Akkord nicht zerpflücken, durchleuchten kann. Ob es allgemein verständlich, ohne Fachbegriffe, gelingt? Einen Versuch ist es wert – bei aller Unzulänglichkeit.

    "Tristan-Akkord" gibt immer noch Rätsel auf

    Es war wohl in Zürich, es war wohl das Jahr 1857, als Wagner – zwischen zwei Frauen stehend – den „Tristan-Akkord“ gleich im zweiten Takt seiner Oper „Tristan und Isolde“ notierte. Er umfasst vier Töne (für Musiker: f – h – dis – gis), die bis heute – eine Beruhigung für alle Laien – selbst jenen Spezialisten, die professionell Musik zu analysieren gewohnt sind, ein Rätsel aufgeben.

    Dazu sollte man wissen: Über Jahrhunderte hinweg wurde die abendländische Kunstmusik tendenziell immer differenzierter und klangmächtiger. Vom einstimmigen Gregorianischen Gesang bis hin zur heutigen Sinfonik Neuer Musik mit womöglich 100 unterschiedlichen Instrumentalstimmen war es ein langer Entwicklungsprozess. Und in diesem Prozess setzte Wagner eine folgenschwere Wegmarke. Er tat etwas Überraschendes. Er schuf etwas Neues. Er komponierte einen uneindeutigen Akkord.

    Wagner baute auf Harmonien

    Die Regel vor Wagners „Tristan-Akkord“ war – bei aller Unschärfe – der eindeutige, allenfalls zweideutige Akkord. Also das gleichzeitige Erklingen von drei, vier, seltener fünf Tönen, die traditionsverhafteten Regeln insbesondere dann unterlagen, wenn sie nicht eine ganz reine Harmonie ergaben. Dann musste die in ihnen klingende Spannung zu reiner Harmonie wieder aufgelöst werden. Und eben dafür gab es (ein sich stetig erweiterndes) Regelwerk.

    Wagner nun war es am Zürichsee gegeben, seine „Tristan“-Oper mit einem spannungsvollen, fiebrigen, sich sehnenden Akkord zu eröffnen, der erstens quasi ohne Vorlauf, ohne harmonische „Vorgeschichte“ ertönte, und zweitens, ohne dass klar sein konnte, wie es danach weitergeht. Nach dem „Tristan-Akkord“ konnte die Musik quasi regelgerecht oder „logischerweise“ so oder so oder anderswie fortschreiten. Und Wagner nutzt exakt das im „Tristan“ weidlich aus. Mal „löst“ er die Spannung dieses vieldeutigen zentralen Leit-Akkords auf die eine Art auf, mal auf eine andere, mal auf drittem oder viertem Weg. Wie das Schiff im „Tristan“, wie das Gefühl im „Tristan“, schwankt auch der harmonische Boden des Werks – zumal Wagner insgesamt eine Harmonik erklingen lässt, die so vielschichtig schillert wie Seide unter wechselndem Lichteinfall (für Musiker: Chromatik). Fast kann man sagen: Immer, wenn etwas offenbleibt in Handlung und Dialog, dann erklingt der „Tristan-Akkord“.

    Die Emanzipation der Klänge

    Aber wieso soll nun dieser einzelne Akkord „genial“ sein? Antwort: Weil er die Musikgeschichte maßgeblich beeinflusste. Weil er eine Voraussetzung lieferte für eine vollkommen neue Art zu komponieren. Der „Tristan-Akkord“ ohne Vorlauf und zwingende Auflösung stand ganz allein für sich. Dieser Akkord war gleichsam autonom, „emanzipiert“. Und nach Wagner „emanzipierten“ sich immer mehr Klänge: Richard Strauss lässt in seiner Oper „Salome“ (1905) zwei Tonarten gleichzeitig erklingen – ebenso wie später auch Strawinsky in seinem Ballett „Petruschka“ (1909).

    Einer aber erweiterte das Eigengewicht aller Zweiklänge und Akkorde erheblich: Arnold Schönberg in seinen atonalen Kompositionen. Er emanzipierte auch die ganz scharfe Dissonanz und wertete sie so erheblich auf. Er überwand feste Tonartenbezüge. Die Musik wurde freier, expressiver, aber auch weniger eingängig.

    Letztlich gab Wagner dazu einen wesentlichen Anstoß.

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