Es war im Herbst 2007. Ich schrieb gerade an meinem zweiten Roman, „Geister“, in dem einem Mann der Bezug zur Wirklichkeit abhandenkommt. Eines Abends traf ich mich mit einem Freund. Völlig begeistert erzählte er mir von seiner Sommerlektüre von Leo Tolstoi: „Anna Karenina“. „Das Buch hat mein Leben verändert. Diese Art zu schreiben! Die Figuren!“ Ich muss gestehen: Bis dahin hatte ich immer um Tolstoi einen weiten Bogen gemacht. Tolstoi, das war für mich ein typischer Autor des 19. Jahrhunderts, für den die Welt auf über 1000 Seiten völlig abbildbar und erklärbar war; ein Autor von angestaubten Schmökern, naiv und sentimental. Wie sollte mir so etwas bei der Arbeit an meinem neuen Text helfen, der doch gerade die Unbeschreibbarkeit der Gegenwart zum Thema hatte? Etwas unschlüssig blätterte ich also in der alten „Anna Karenina“-Ausgabe meiner Großmutter. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Nachdem Wronskij beim Pferderennen gestürzt und von da an klar war, dass es mit ihm und der Karenina ein böses Ende nehmen würde, und spätestens, als Lewin Kitty endlich einen Antrag machte und ihm am Morgen danach angesichts der frischen Wecken in der Auslage des Bäckers vor Freude „die Augen feucht wurden“, war es um mich geschehen. Ich war zum Tolstoi-Fan geworden.
Leo Tolstoi wurde als Erneuerer der Literatur gefeiert
Bald darauf kaufte ich mir eine Biografie und musste staunend feststellen: Tolstoi war nicht nur ein Ausnahmeautor, der ähnlich wie Shakespeare oder Goethe die Literaturgeschichte verändert hat; er war auch ein Jahrhundertmensch, dessen Gedanken heute überraschend aktuell wirken. Von Geburt an adelig, wird er in jungen Jahren als Soldat auf der Krim zum Kriegsheld und lernt auf zwei ausgedehnten Europa-Reisen einige der berühmtesten Persönlichkeiten seiner Zeit kennen. Auf seinem Landgut in Jasnaja Poljana will er die Verhältnisse seiner Bauern verbessern und gründet reformpädagogische Schulen, an denen er selbst unterrichtet. Erst mit 34 Jahren heiratet er, insgesamt 13 Kinder wird er mit seiner Frau Sofja haben. Innerhalb von 15 Jahren entstehen dann die Weltbestseller „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“, für die er international von Kollegen und Kritikern als Erneuerer der Literatur gefeiert wird. Doch wenig später bezeichnet er die Romane als Schund, widmet sich, von Selbstzweifeln getrieben, ganz dem theologischen Studium und veröffentlicht bis zu seinem Tod vor allem Traktate, in denen er zu Pazifismus, Vegetarismus und Askese aufruft. Seine Philosophie lässt Scharen von Anhängern zu seinem Landgut pilgern, wo sie nach seiner Lehre leben. Gandhi schreibt ihm begeisterte Briefe. Im Volk gilt er wegen seiner moralischen Integrität als eine Art Heiliger. Als Leo Tolstoi in seinem Testament zum Wohl der Allgemeinheit auf das Copyright an seinen Werken verzichten will, kommt es zum erbitterten Streit mit seiner Frau, die um die Zukunft ihrer Familie fürchtet. Am Ende flieht der 82-Jährige bei Nacht und Nebel mit unbekanntem Ziel. Während der Zugfahrt holt er sich eine Lungenentzündung und schließlich stirbt er, umlagert von der Weltpresse, in einem kleinen Bahnwärterhaus im russischen Nirgendwo. Angesichts eines solchen Lebens wunderte es mich nicht, dass Thomas Mann einmal schrieb: „Wären die scharfen grauen Augen des Alten aus Jasnaja Poljana 1914 noch offen gewesen, der Erste Weltkrieg hätte es nicht gewagt auszubrechen.“ 2010 sollte meine Beschäftigung mit Tolstoi eine unerwartete Fortsetzung erhalten, als ich in Russland eine Dokumentation über ihn drehte. 45 Minuten über eine derart einzigartige Persönlichkeit, nichts lieber als das, dachte ich mir. Aber so wie drei Jahre zuvor kam wieder alles anders als gedacht. Denn je mehr Tolstoi-Experten ich interviewte, desto unschärfer, ja rätselhafter wurde mir das Bild des russischen Grafen. Nach seiner religiösen Wende in den 1880ern rief er zur sexuellen Enthaltsamkeit auf; bis zu seiner Heirat besuchte er freilich regelmäßig Bordelle und dachte später an Scheidung, als seine Frau sich weigerte, mit über 40 noch einmal schwanger zu werden. Oder: Tolstoi propagierte zwar absolute Askese als die wahre Nachfolge Christi, bewohnte jedoch in Moskau und Jasnaja Poljana stattliche Villen und war peinlichst darauf bedacht, dass die Kinder der Bauern, für deren Rechte er kämpfte, keinen Kontakt mit seinen eigenen hatten.
Die Sehnsucht völliger Kontrolle führte zur privaten Tragödie
Am Ende der Dreharbeiten sah ich Tolstoi und sein Werk mit anderen Augen: Was ihm in seinen Romanen so grandios gelang, die Souveränität eines allwissenden Erzählers, der die Fäden seiner Figuren fest in den Händen hält und miteinander verknüpft – in der Wirklichkeit führte die Sehnsucht nach völliger Kontrolle zur privaten Tragödie. Ruhelos lief er, der vermeintliche Prophet, seinen eigenen Idealen hinterher. Über diese Extreme und Widersprüche in seinem Leben mochte der Mensch Tolstoi verzweifeln; dem Schriftsteller waren sie die Voraussetzung dafür, seine vielen unterschiedlichen Charaktere, ihrer Wünsche und Ängste, so unvergesslich intensiv darzustellen.
Leo Tolstoi hätte heute 186. Geburtstag . Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker lebt in Augsburg. Dieser Bericht erschien zunächst November 2010 in unserer Zeitung.