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100. Geburtstag: Paul Celan, der Dichter mit dem einzigartigen Sound

100. Geburtstag

Paul Celan, der Dichter mit dem einzigartigen Sound

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    Deutsch schreibender Dichter, dem Deutschland unheimlich blieb: Paul Celan (1920–1970).
    Deutsch schreibender Dichter, dem Deutschland unheimlich blieb: Paul Celan (1920–1970). Foto: dpa

    Das Jahr 2020 wartet mit gleich zwei Anlässen auf, Paul Celan in den Vordergrund zu rücken. Der eine war die Wiederkehr des 50. Todestages – am 20. April 1970 hatte der deutschsprachige Dichter Selbstmord in Paris begangen. Der andere Anlass reicht noch ein weiteres Halbjahrhundert zurück, in das Jahr 1920. Am 23. November vor 100 Jahren wurde Paul Antschel, so sein ursprünglicher Name, als Sohn einer jüdischen Familie in Czernowitz in der Bukowina geboren – Celan (ein Anagramm von Antschel), der wohl bedeutendste Lyriker deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Schon zu Beginn des laufenden Jahres ist eine ganze Reihe neuer Bücher erschienen zu Leben und Werk des Dichters, der, anders als sein Vater und seine Mutter, dem Holocaust entging, nicht aber dem Trauma des Davongekommenseins, was sein Schreiben maßgeblich prägte. Jüngst jedoch erst ist eine Celan-Veröffentlichung von besonderer Art erschienen. Der Hörverlag hat unter dem Titel „Todesfuge“ eine Auswahl von 90 Gedichten zusammengestellt, die Paul Celan selbst vorgetragen hat – faszinierende Tondokumente des singulären lyrischen Werks und zugleich des Menschen, der es schuf. Zu Recht finden die zwei CDs sich aktuell an der Spitze der HR2-Hörbuchbestenliste.

    Als Paul Celan "Todesfuge" bei der Gruppe 47 las

    Die Reihe der vorwiegend aus Rundfunkarchiven hervorgeholten Aufnahmen beginnt 1952. Für Celan ist es ein in mehrfacher Hinsicht folgenreiches Jahr. Zum ersten Mal wagt sich der jüdische Dichter, der aus seiner Heimat emigriert war und sich in Paris niedergelassen hatte, nach Deutschland, in das Land der Täter. Er folgt einer Einladung der Gruppe 47 zu einem Schriftstellertreffen nach Niendorf an der Ostsee. Hier, Ende Mai 1952, liest er im Kreis der Kollegen eine Reihe eigener Gedichte, darunter die nachmals berühmt gewordene „Todesfuge“ mit ihren Eingangsworten „Schwarze Milch der Frühe“ und der nicht weniger berühmten Bildschöpfungen vom „Grab in den Lüften“. Die Reaktionen zahlreicher Zuhörer, darunter der tonangebende Hans-Werner Richter, sind fatal. Es wird gelacht, „Singsang wie in einer Synagoge“ schlägt es Celan entgegen, ja es fällt sogar der Satz „Der liest ja wie Goebbels“.

    Es war wohl vor allem Celans Rezitationsstil, der den in Niendorf versammelten deutschen Nachkriegsliteraten, die sich vielfach dem neuen Stil des Neorealismus verschrieben hatten, nicht behagte. Celan trug seine Gedichte in einem pathosgeladen-hymnischen Ton vor, der den Wortführern der Gruppe 47 höchst fremdartig in den Ohren klang. Bei der Wahl zum Preisträger des Treffens fiel er denn auch krachend durch. Celans belastetes Verhältnis zu Deutschland wurde durch die schroffe Ablehnung von Männern, die oft wenige Jahre zuvor als Soldaten Beteiligte an einem Vernichtungskrieg waren, noch komplizierter.

    Bei Paul Celan wird die Schlange zur Schlang--ge

    Einer der Anwesenden aber zeigt sich beeindruckt. Ernst Schnabel, Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks, lädt Celan zu einer Lesung ins Studio ein. Vier Tage nach seinem Misserfolg in Niendorf spricht er 13 seiner Gedichte in die Mikrofone, erstmals überhaupt sind sie jetzt veröffentlicht in der vorliegenden Hörbuch-Edition. So kann man noch einmal nachhören, wie es bei dem Treffen der Gruppe 47 geklungen haben muss. Celans Stimme ist eindringlich in ihrer feierlichen Monotonie, und sehr eigenwillig wirkt der Dichter in seiner Manier des Überartikulierens, besonders hervorstechend bei der Konsonantenfolge „ng“ – sodass etwa die „Schlange“ zur „Schlang--ge“ wird.

    Ein Gedicht freilich fehlt in dieser Funkaufnahme unmittelbar nach dem Niendorfer Treffen, die „Todesfuge“. Hat der Dichter sie fortgelassen, weil er gerade bei diesen Versen noch unter dem Eindruck der vernichtenden Kritik stand? Natürlich ist das Gedicht auch in der Hör-Edition, der es den Titel gab, enthalten, jedoch in einer Aufnahme von 1958. Ein atemloser, manchmal gehetzt wirkender Puls treibt die Verse voran, die vom Mord an den Juden künden und von denen, die ihn ins Werk setzten und zugleich sich ihren Träumen hinzugeben wagten. Celan moduliert Tempo und Dynamik, bleibt dabei weich in der Intonation, geradezu märchenhaft weich bei der letztmaligen Wiederholung der Worte: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland …“

    Paul Celan: Der NS-Sympathisant und der Jude

    Celans Lesung bei der Gruppe 47 ist einer der mythisch gewordenen Momente der deutschen Nachkriegsliteratur. Es gibt noch einen zweiten, nicht weniger legendären, der sich um Celan dreht. Auch dieser Moment ist geknüpft an eine Lesung, diesmal im Jahr 1967 in Freiburg. Wiederum ist der Dichter aus Paris in das ihm unheimliche Deutschland gereist, diesmal ist er Gast der Freiburger Universität, rund tausend Zuhörer haben sich versammelt, um den längst berühmt gewordenen Lyriker persönlich zu erleben. Die Lesung wurde mitgeschnitten, und es macht noch heute Eindruck mitzuverfolgen, wie diese Stimme, die inzwischen nüchterner und monochromer geworden ist, doch noch immer diesen unverkennbaren Sound besitzt, ein solch großes Auditorium in den Bann zu schlagen vermag – mit Gedichten, die bei erstmaliger Begegnung kaum zu durchdringen sind in ihrer Komplexität.

    In der ersten Reihe des Freiburger Audimax sitzt Martin Heidegger. Der deutsche Philosoph, der sich eine Zeit lang den Nazis angedient hatte und nach dem Krieg nie ein Wort des Bedauerns darüber hatte verlauten lassen – Heidegger ist nun der Hörer einer Lyrik, in der die Erinnerung an den Holocaust immer zumindest untergründig mitschwingt und deren Verfasser selbst Verfolgter war. Gewiss, Celan verbindet mit Heidegger seit längerem eine geistige Verwandtschaft in ästhetisch-philosophischen Fragen, beide verfolgen die Wege des jeweils anderen aus der Distanz. Nach der Lesung in Freiburg lädt Heidegger den jüdischen Dichter auf seine Denkerhütte in den Schwarzwald ein. Celan sagt zu, wohl in der Erwartung, im Zwiegespräch mit dem Philosophen ein Wort des Eingeständnisses, des Bedauerns über dessen NS-Begeisterung zu hören. Doch Heidegger bleibt stumm.

    Es sind Szenen wie diese, Schlüsselszenen der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte des vergangenen Jahrhunderts, die den Hinter- und Untergrund bilden für die eindringlichen Lesungen Paul Celans, wie sie jetzt noch einmal nachzuverfolgen sind. Das macht die Hör-Edition zu einem Ereignis.

    Das Hörbuch: Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 1952–1967. Der Hörverlag, 2 CD, 119 Min.

    Lesen Sie mehr zur Lebensgeschichte von Paul Celan: Dichten in der Muttersprache, Mördersprache

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