Krimis ziehen das breite Publikum. Wo könnte das triftiger belegt werden als derzeit im deutschsprachigen Raum mit überbordenden Krimi-Abteilungen im Buchhandel, ja Krimi-Fachgeschäften – und mit den allabendlichen Vielfach-Angeboten im TV?
Krimis ziehen das breite Publikum. Dies sagte sich auch Friedrich Dürrenmatt Anfang der 1950er-Jahre, als es für den Bühnendramatiker in ihm noch nicht so lief wie gewünscht und er als Familienvater in finanzieller Klemme steckte. Also schrieb er das Manuskript zu „Der Richter und sein Henker“ zu Ende und ließ diesem – bei verdoppeltem Honorar der Schweizerischen Beobachter-Zeitschrift – noch einen Fortsetzungsroman folgen: „Der Verdacht“. Die Strategie ging auf. Dürrenmatt machte sich nicht nur dem breiteren Publikum bekannt, er kam auch noch zu Geld. Von nun an ging’s bergauf.
Aber das Schönste an diesem Erfolg war und ist: Beide Kriminalromane gehen über Unterhaltung und Zerstreuung hinaus; sie halten literarischen Ansprüchen stand; sie sind mit Kommissar Bärlach frühe Beispiele für den heute so beliebten (alpenländischen) Regionalkrimi und die heute so beliebte Krimi-Zuspitzung durch einen sich nicht nur legaler Mittel bedienenden Ermittler. Festzuhalten bleibt: Diese Romane gehören zur Standard-Literatur des Genres, und wer sie als Liebhaber tatsächlich noch nicht kennen sollte, darf sich auf sein Nachsitzen mit kriminalistischer Spannung freuen. (Beide Bücher liefen übrigens in dieser Zeitung schon einmal als Tagesroman.)
Dürrenmatts Interesse für das organisierte Verbrechen
Und noch etwas, ganz wichtig, kommt hinzu: In „Der Verdacht“ geht Dürrenmatt über das Verbrechen eines Einzelnen hinaus und greift viel weiter aus: auf das organisierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das sollte ihn auch später noch beschäftigen. Denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es viele.
Aber bevor es dazu kam, widmete sich Dürrenmatt anderen Straftaten. Erst einmal betrat 1956 eine mondäne alte Dame triumphierend die Weltbühnen, im kapitalistischen Westen wie im sozialistisch-kommunistischen Osten: Claire Zachanassian. Auch ihr Wirken: justiziabel. Die milliardenschwere Rachegöttin bringt eine biedere Gemeinde dazu, um absehbaren Wohlstands willen einen ihrer Bürger zu lynchen: Alfred Ill, der vor Jahrzehnten Claire Zachanassian geschwängert und unter Falschaussagen vor Gericht sitzen gelassen hatte.
Was für ein Stoff! Welche perfide Gemeinheit eines Einzelnen, welche perfide Gemeinheit einer Kommune mit dem beziehungsreichen Namen Güllen. Ein Auftragsmord gegen viel Kohle, bei dem alle ein bisschen mittun und alle im Kollektiv untertauchen. „Der Besuch der alten Dame“: ein Welterfolg, bei dem sich der kapitalistische Westen gespiegelt sah und der Ostblock mit spitzem Finger auf die Prinzipien des Kapitalismus verweisen konnte. Für Polen übrigens übersetzte das Werk schon 1957 ein gewisser Marcel Reich(-Ranicki).
Selbst am amüsiersüchtigen Broadway schlug das Drama ein – und bald war Dürrenmatt aller finanziellen Sorgen enthoben. Bald konnte sich der Dramatiker, der früh allerdings schon an Diabetes litt, zu einem gastfreundlichen Genussmenschen entwickeln – zu einem Feinschmecker und Weinkenner, zu einem Auto-Liebhaber, der nicht wenige Zwischenfälle und (leichtere) Unfälle hatte – anklingend übrigens in der Erzählung „Die Panne“, die die multifunktionale Profession Dürrenmatts als Schriftsteller, Hörspielschreiber, Bühnendramatiker, Drehbuchautor belegt.
Dürrenmatt, ein Bewunderer Brechts
Dürrenmatt kannte und schätzte Bert Brecht. Dessen episches Theater hatte auf seine Dramen großen Einfluss. Im Grunde auch ist Dürrenmatts zweiter großer Theaterwurf „Die Physiker“ eine Fortschreibung von Brechts 1943 in Zürich uraufgeführtem „Leben des Galilei“. Geht es doch auch darin um die (Natur-)Wissenschaft, ihre Konsequenzen und Verantwortung, nun mitten im atomaren Wettrüsten zwischen Ost und West. So bitter „Der Besuch der alten Dame“, so bitter der Wille der Irrenhaus-Chefin Dr. Mathilde von Zahnd, die Weltmacht an sich zu reißen, indem sie jene Forschungsunterlagen an sich bringt, die der findige Physiker Möbius aus Verantwortungsbewusstsein beiseite geschafft zu haben glaubt. Den so grotesken wie ernsten Plot nannte Dürrenmatt eine Komödie. Ihr Kern floss indirekt noch in eine UNO-Generalversammlung 1977 ein, als der US-Präsident Jimmy Carter im Zusammenhang mit der atomaren Rüstung daraus zitierte: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
Hinzugefügt sei: Ursprünglich hatte der naturwissenschaftlich stark interessierte Dürrenmatt eine männliche Irrenhaus-Leitung vorgesehen; die große Therese Giehse aber, die bei der Uraufführung 1962 Dr. von Zahnd spielte, hatte den Autor davon überzeugt, dass es einfach zu wenige weibliche Monstren auf der Bühne gebe... (Zur Zeit hat das Staatstheater Augsburg „Die Physiker“ im Repertoire.)
Und anzumerken ist auch, dass die Aufführungszahlen der „Physiker“ auf deutschsprachigen Bühnen umgehend die Aufführungszahlen von Max Frischs „Andorra“ übertrafen. Die beiden Schweizer aber waren sich kollegial so zugetan wie sie als Konkurrenten in einem herzlich abgeneigten Verhältnis standen – nicht zuletzt von Dürrenmatt befeuert, der 1961 bei der „Andorra“–Uraufführungsfeier den anwesenden Journalisten die angeblichen Schwächen des eben gesehenen Stücks darlegte. Und apart ist auch jene Begebenheit 1967, als das Ehepaar Dürrenmatt sowie Max Frisch und seine Freundin Marianne Oeller zur Zeit der Literatur-Nobelpreis-Vergabe in Venedig Urlaub machten. Oeller berichtete, dass sich am Morgen nach der Preisverkündung die beiden Großliteraten getrennt aus dem Hotel stahlen, um sich heimlich eine Zeitung zu beschaffen – und nach stattgehabter Lektüre erleichtert feststellten, dass der jeweils andere in Stockholm nicht gekürt worden war.
Als wär's ein vorweggenommener Schirach
Dies und noch viel mehr fasst jetzt zum 100. Geburtstag (5. Januar) die druckfrische Dürrenmatt-Biographie von Ulrich Weber zusammen, Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses in Bern. Der über 700-seitige Band ist so fundiert verfasst wie flüssig zu lesen. Lebenslauf, Analyse, (private) Hintergründe gehen mit der Auswertung bislang unveröffentlichter Dokumente und auch in der Betrachtung von Dürrenmatts Leistungen als Bildender Künstler eine glückliche Symbiose ein (Diogenes, 28 Euro).
Notabene: So, wie sich Dürrenmatt in späteren Jahren vom Theater abwandte („Als zahnlose Bestie fletscht es uns entgegen“, 1986), so entfernte er sich im Alter noch weiter von den Mechanismen des traditionellen Krimis. In „Justiz“, zwar 1960 begonnen, aber erst 1985 als Roman fertiggestellt (und 1993, drei Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, verfilmt), beauftragt der Regional-Politiker Kohler, der unter Zeugen einen Professor erschossen hatte, einen ehrgeizigen Juristen, den Mord noch einmal zu untersuchen – und zwar unter der Vorgabe, er, Kohler, sei nicht der Täter. Und der Anwalt und das Gericht kommen tatsächlich zu einem anderen Ergebnis... Gibt es da nicht auch Parallelen zu Ferdinand von Schirachs „Feinde“, zu sehen letzten Sonntagabend in der ARD? Doch, gibt es. Aus dem Krimi-Autoren Dürrenmatt war ein Schriftsteller geworden, der ein Verbrechen so erkenntnistheoretisch wie erkenntniskritisch, so philosophisch wie systemanalysierend filetierte.
Lesen Sie hier, wie sich "Die Physiker" auf der Bühne ausnehmen: Das Staatstheater als Irrenhaus