Im Mai 1952 treffen sich die Literaten der Gruppe 47 an der Ostsee in Niendorf. Diesmal ist auch ein unbekannter Lyriker aus Paris dabei, der in deutscher Sprache schreibt und zum ersten Mal in der Bundesrepublik ist, Paul Celan. Mit hohem Pathos trägt er ein Gedicht voller ungeheurer Bilder vor. Von Menschen ist da die Rede, welche die „Schwarze Milch der Frühe“ trinken und sich „schaufeln ein Grab in den Lüften“. Ein Mann wird benannt, „der pfeift seine Rüden herbei / er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde“. Und dann heißt es auch noch, „der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau“.
„Todesfuge“ hat Paul Celan dieses Gedicht betitelt. Es enthält die berühmtesten Verse deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unzählige Male übersetzt, Inspiration für Generationen von Künstlern – Verse über das Leiden der Juden in den Konzentrationslagern. Unter den Schriftstellerkollegen in Niendorf 1952 aber stoßen das Gedicht und sein Verfasser weitgehend auf Ablehnung. „Singsang wie in einer Synagoge“ schallt es Celan entgegen, er muss sich gar anhören, er lese „wie Goebbels“. Reaktionen, die den Dichter verstören und seine Sicht auf Nachkriegsdeutschland nachhaltig prägen.
Celans Eltern werden in den Lagern ermordet
Was vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte nicht verwundert. Geboren wurde er vor 100 Jahren, am 23. November 1920, unter dem Namen Paul Antschel im heute zur Ukraine gehörenden Czernowitz. Die Stadt in der Bukowina ist damals habsburgisch geprägt und verzeichnet eine große jüdische Gemeinde. Auch die Antschels gehören dazu, und die Mutter vermittelt dem jungen Paul die Liebe zur deutschen Sprache und Literatur. 1941 kommt mit den Deutschen jedoch der Krieg, die Eltern werden im Lager ermordet, die Mutter durch Genickschuss. Paul Antschel, zur Arbeit im Straßenbau gezwungen, überlebt als Traumatisierter. Den neuen Machthabern traut er nicht, und so emigriert er über Bukarest zunächst nach Wien, wo er die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann kennenlernt und mit ihr eine Beziehung beginnt. Doch auch hier fühlt er sich unbehaust und zieht 1948 weiter nach Paris. Eine Stadt, die ihm lebbar erscheint, nah und doch fern genug zu Deutschland, das ihn nicht loslässt. Er findet eine Anstellung, heiratet eine Französin und ändert seinen Nachnamen um in Celan, mit weich gesprochenem C und der Betonung auf der ersten Silbe.
Vor allem aber dichtet er weiter in deutscher Sprache. Es ist die Sprache der anhaltend betrauerten Mutter, zugleich die Sprache ihrer Mörder. Ein „abgrundtiefes Dilemma“, wie Wolfgang Emmerich in seiner faszinierenden Studie über den Dichter und sein Verhältnis zu den Deutschen schreibt. Doch das Schreiben in deutscher Sprache ist für Celan eine produktive Auseinandersetzung mit der Schoah. Immer wieder ruft er in Gedichten die ermordete Mutter herbei: „Deiner Mutter Seele schwebt voraus. / Deiner Mutter Seele hilft die Nacht umschiffen, Riff um Riff. / Deiner Mutter Seele peitscht die Haie vor dir her.“ Unter seinem, wie er später schreiben wird, „besonderen Neigungswinkel der Existenz“ bildet Celan auch einen besonderen Umgang mit der poetischen Sprache aus. Auf den Reim wird verzichtet und meist auf ein Versmaß, die eingesetzten Sprachbilder sind vieldeutig, vor allem aber fehlt jegliche konventionelle Ab-Bildung: Statt dessen schafft er eine „wirklichkeitswunde“ Gedichtsprache.
Immer stärker wittert Celan Antisemtismus
Die Aufnahme dieser neuartigen Lyrik in der Nachkriegsgesellschaft ist gespalten. Einerseits werden Celans Gedichte in Deutschland verlegt, wird ihr Verfasser zu Lesungen eingeladen. Doch es gibt auch, wie schon in der Gruppe 47, Kritik, zuweilen harsche. Formalismus ohne eigentliche Substanz, lautet ein wiederkehrender Vorbehalt, und im Bezug auf Verse, die wie die „Todesfuge“ große sprachliche Virtuosität entfalten, ist abwertend von „Augenmusik“ die Rede. Verrätselt, ja realitätsfern sei Celans Lyrik. Den Dichter, der dem Holocaust entronnen ist, trifft das tief. Immer stärker wittert er hinter solchen Vorbehalten – teils mit, teils ohne Grund – Antisemitismus.
Mit den Jahren wächst sich diese Wahrnehmung der Deutschen und ihrer literarischen Vertreter zu einer sich stetig steigernden Empfindlichkeit aus. Wenn bei einer Lesung in Stuttgart einer aufsteht und Türen schlagend den Saal verlässt, wiegt das für Celan schwerer als Hunderte von lauschenden Zuhörern. Freundschaften, die während der frühen 50er entstanden sind – darunter solche mit Heinrich Böll und Günter Grass –, zerbrechen an Celans hartnäckigem Verdacht, bei den Deutschen überall Verdrängung, wenn nicht Schlimmeres wahrzunehmen.
Schließlich hilft nur noch die Psychiatrie
1960 ist für den Dichter ein Jahr der Extreme. Der Büchnerpreis wird ihm zuerkannt, Deutschlands wichtigste literarische Auszeichnung. Doch in einer kleinen Literaturzeitschrift erhebt Claire Goll den Vorwurf, Celan sei ein Plagiator der Gedichte ihres Mannes Yvan Goll – eine haltlose Infamie, die jedoch viel Wind in den Feuilletons entfacht. Celan sieht sich in seiner gesamten Existenz infrage gestellt, Depressionen und Wahnzustände stellen sich ein, Behandlungen in psychiatrischen Kliniken werden unumgänglich. 1967 schließlich unternimmt er einen Selbstmordversuch, das Messer verfehlt sein Herz nur knapp. Das Zusammenleben mit Frau und Sohn wird unmöglich, Celan zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus.
Erstaunlich bei all diesen Verdüsterungen ist seine unverminderte Produktivität. In den 60er Jahren schärft er noch einmal seinen Umgang mit der Sprache, hin zu einer „graueren Sprache“, die „dem Schönen“ misstraut und den „Wohlklang“ verbannt. Programmatisch – auch im Schriftbild – formuliert er im Gedicht „Tübingen, Jänner“, das einen Besuch in der Stadt des als wesensverwandt empfundenen Dichters Hölderlin reflektiert: „Käme, / käme ein Mensch, / käme ein Mensch zur Welt, heute, mit / dem Lichtbart der / Patriarchen: er dürfte, / spräche er von dieser / Zeit, er / dürfte / nur lallen und lallen, / immer-, immer- / zuzu.“
Der Jude und der NS-Sympathisant
Gezeichnet von Behandlungen mit Psychopharmaka und Elektroschocks – „zerheilt“, wie er in schlagender Wortfügung sagt – unternimmt er weiter Lesereisen nach Deutschland. Dabei kommt es 1967 in Freiburg zu einer denkwürdigen Begegnung mit Martin Heidegger. Celan schätzt dessen Hölderlin-Schriften, weiß aber auch, dass der Philosoph anfangs den Nazis zugejubelt hatte und sich nun in Schweigen über seine Vergangenheit hüllt. Heidegger lädt den Dichter zu einem Ausflug in den Schwarzwald ein. Celan stimmt zu, wohl in Erwartung, bei dem Treffen in der „Denkhütte“ des Philosophen bei Todtnauberg werde seitens Heidegger ein Wort der Distanzierung von dessen NS-Begeisterung fallen. Doch ein Gespräch über den für beide neuralgischen Punkt kommt nicht zustande, Heidegger wird im Rückblick sagen: „Wir haben vieles einander zugeschwiegen.“
Das Verdrängen der deutschen Gewaltgeschichte, das Scheitern aktueller politischer Hoffnungen (Prager Frühling), die eigene traumatische Erinnerung, anhaltende psychische Labilität: Ein Gemenge, das zu einem neuen Versuch führt, sich das Leben zu nehmen. Diesmal gelingt es. In der Nacht vom 19. auf den 20. April 1970 wird das Verschwinden des 49-jährigen Dichters bemerkt, Tage später wird sein Leichnam in der Seine gefunden.
Gut möglich, dass dieser Tod die seit den 70er Jahren mit Wucht einsetzende Verehrung von Autor und Werk noch befördert hat. Paul Celans literarischer Rang ist heute jedenfalls unbestritten: Als Schöpfer einer „Gedichtsprache“, die, wie Wolfgang Emmerich schreibt, „ihresgleichen im deutschen Sprachraum nicht hat“.
Neue Bücher im Celan-Jahr
- - Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Galiani, 200 S., 20 €
- - Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Wallstein, 400 S., 24 €
- - Thomas Sparr: Todesfuge. Biografie eines Gedichts. DVA, 336 S., 22 €