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Ziemetshausen: Warum Adolf Philipp aus Ziemetshausen an der Berliner Mauer starb

Ziemetshausen

Warum Adolf Philipp aus Ziemetshausen an der Berliner Mauer starb

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    Der 1964 an der Berliner Mauer erschossene Adolf Philipp ist auf dem Ziemetshauser Friedhof beerdigt.
    Der 1964 an der Berliner Mauer erschossene Adolf Philipp ist auf dem Ziemetshauser Friedhof beerdigt. Foto: Sophie Maier

    Es ist ein schlichter Grabstein auf dem Ziemetshauser Friedhof für den Fernsehtechniker Adolf Philipp. Doch dann fällt der Blick auf das Geburtsjahr 1943 und das Todesjahr 1964. Tod mit 20 oder 21 Jahren – der Gedanke, dass Philipp etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, nimmt auf eine beklemmende Weise Gestalt an.

    Geradezu riesig ist die Sammlung der Muttershofenerin Sophie Maier. Fotos, Postkarten, Briefe, Briefmarken, Sterbebilder. "Tausende": Mit diesem Wort könnte man wohl die Dimension dieses besonderen Schatzes umschreiben. Das Gespräch mit ihr über ihre Sammlung ist weit fortgeschritten, als sie ein vergilbtes Sterbebild auf den Tisch legt: "Adolf Philipp, er starb am 5. Mai 1964 an der Berliner Mauer". Sophie Maier war damals neun Jahre alt, sie erinnert sich nur sporadisch an Philipp. Aber bei einigen Älteren sind noch Details aus den 1960er-Jahren präsent. Vater Adolf Philipp (1907 bis 1970) betreibt ein kleines Radio- und Fernsehgeschäft. Eine heute über 90-Jährige erinnert sich, dass Kinder bei Philipp Fernseh schauen durften, weil es im Ort kaum Fernseher gab. 

    Der Ziemetshauser Fernsehtechniker Adolf Philipp, Jahrgang 1943, wurde 1964 von DDR-Grenzern an der Berliner Mauer erschossen.
    Der Ziemetshauser Fernsehtechniker Adolf Philipp, Jahrgang 1943, wurde 1964 von DDR-Grenzern an der Berliner Mauer erschossen. Foto: Sammlung Familie Philipp

    Auch Sohn Adolf (geboren am 17. August 1943 in Ziemetshausen als ältestes von vier Kindern) lässt sich nach dem Schulabschluss (Mittlere Reife) zum Radio- und Fernsehtechniker ausbilden. Immer wieder ist er mit dem Rad unterwegs, um reparierte Radios zu den Kunden zu transportieren. Doch dieses Leben in

    1989 spricht die Redaktion mit Philipps Mutter Rosina

    Philipp zieht es nach Berlin. Sein Weg dorthin wird Jahrzehnte später von der Historikerin Christine Brecht rekonstruiert. Nachzulesen ist ihre Darstellung in dem 2019 in einer aktualisierten dritten Auflage erschienenen Werk "Die Todesopfer an der

    Ihr Sohn habe die 1961 gebaute Mauer, die Berlin teilt und zum Symbol für den Abgrund des Kalten Kriegs wird, als eine "große Ungerechtigkeit" empfunden, erinnert sich seine Mutter rückblickend 1989. Philipp lässt sich im Sommer 1963 durch das Arbeitsamt eine Stelle in Westberlin (Berlin-Schöneberg) vermitteln. In Berlin ist der junge Pazifist zudem vom Dienst in der Bundeswehr befreit. Philipp bezieht ein möbliertes Zimmer am Kurfürstendamm im buchstäblich eingemauerten Westteil der Stadt. 

    Ein Radfahrer fährt an der Gedenkstätte in der Bernauer Straße vorbei. Rund 140 Menschen verloren zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer ihr Leben.
    Ein Radfahrer fährt an der Gedenkstätte in der Bernauer Straße vorbei. Rund 140 Menschen verloren zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer ihr Leben. Foto: Christophe Gateau/dpa/Archivbild

    Er genießt offensichtlich das große Angebot an Freizeitmöglichkeiten wie Kino, Theater, Konzerte und vieles mehr. Aber sein Blick fällt immer auch immer wieder auf die Mauer, dieses Thema wird ihn nicht mehr loslassen. Oft fährt er mit seinem Fahrrad dorthin und "dabei scheut er trotz allenthalben aufgestellter Warnschilder nicht davor zurück, sich in das Niemandsland vorzuwagen, das von West-Berlin aus gesehen an manchen Stellen zwischen der eigentlichen Grenzlinie und den Sperrelementen liegt", schreibt Christine Brecht. Dabei kommt es unter anderem zu einer Begegnung mit zwei DDR-Grenzpolizisten (Grepos), die aber ohne Folgen bleibt. 

    In Briefen an seine Eltern beschreibt Philipp wiederholt die Lage in Berlin. Die Situation in der Bernauer Straße nennt er "furchtbar", er berichtet über "vier Gedenktafeln für Leute, die bei der Flucht an dieser Stelle starben". In seinen Ausführungen wird immer wieder spürbar, dass sich Philipp mit Teilung und Mauer nicht abfinden möchte. 

    In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1964 ist Philipp wieder im Grenzbereich unterwegs. Was in dieser Nacht passiert, ist bis heute nicht lückenlos geklärt. So sind, wie bei Christine Brecht nachzulesen ist, "die amtlichen Berichte der Grenztruppe und des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR die einzigen Zeugnisse, die dokumentieren, wie Adolf Philipp in der Nacht vom 4. zum 5. Mai 1964 zu Tode gekommen ist". 

    DDR-Grenzer stoßen auf Fußspuren

    Gemäß dieser DDR-Darstellung entdecken zwei Grenzsoldaten einer Einheit, die im DDR-Kreis Nauen die Grenze zum Westberliner Stadtbezirk Spandau überwacht, Fußspuren im Grenzstreifen. Laut der offiziellen Darstellung der DDR seien die Posten von Adolf Philipp überrascht und mit einer Pistole bedroht worden. Unteroffizier G. habe das Feuer eröffnet. Philipp war wohl auf der Stelle tot. Untersuchungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ergeben später, dass es sich bei Philipps Pistole um eine Gaspistole handelt, mit der nicht scharf geschossen werden kann. 

    In Westberlin sind Medienecho und Empörung groß. Einen Tag nach dem Tod Philipps war sein Leichnam von der Ostberliner Generalstaatsanwaltschaft an die Westberliner Behörden überstellt worden. Wie sich im Jahr 1989 im Gespräch mit Philipps Mutter Rosina ergibt, sei 1964 in verschiedenen Medien davon die Rede gewesen, dass sich mindestens zwei Schusswunden in Philipps Rücken befanden. Die Behauptung der DDR, Philipp habe die Grenzsoldaten mit einer Waffe bedroht, sei damit als Lüge entlarvt. 

    Rund zwei Jahre vor dem Tod des Ziemetshauser Fernsehtechnikers Adolf Philipps starb Peter Fechter an der Berliner Mauer (Bild).
    Rund zwei Jahre vor dem Tod des Ziemetshauser Fernsehtechnikers Adolf Philipps starb Peter Fechter an der Berliner Mauer (Bild). Foto: DPA

    Im November 1989 spricht unsere Redaktion auch mit dem damaligen Landrat und Bezirkstagspräsidenten Georg Simnacher (1932 bis 2014). Simnacher erinnert sich an die tragischen Ereignisse des Mai 1964. Er ist 1964 noch in der Bayerischen Staatskanzlei beschäftigt. Als gebürtiger Ziemetshauser kennt er Philipp gut. Philipp war Mitglied einer Jugendgruppe, die von Simnacher geleitet wurde. Philipp sei, so Simnacher, das erste bayerische Grenzopfer gewesen. Simnacher schildert die Bemühungen der Bayerischen Staatskanzlei, bei den DDR-Behörden Einzelheiten über den Tod Philipps zu erfahren. Doch dies sei "ergebnislos" geblieben. 

    Mutter Rosina Philipp wird im Mai 1964 telefonisch durch den Berliner Senat vom Tod ihres Sohnes unterrichtet. Ihre Verbitterung richtet sich, wie sie 1989 betont, nicht "gegen den oder die Grenzsoldaten, die ihren Sohn erschossen", sondern gegen das SED-Regime. "Wäre ich den Grenzern damals gegenübergestanden, ich hätte sie höchstens bemitleidet." 

    Am 11. Mai 1964 wird Adolf Philipp auf dem Ziemetshauser Friedhof beigesetzt, der damalige Landrat Karl Graf hält die Traueransprache, die Anteilahme der Bevölkerung ist groß. "Ich weiß, es gibt kaum einen Trost, aber dieser junge Mensch war so ganz von der Art, wie mein verstorbener Mann sich seinen Sohn gewünscht hätte, der Sohn, der im Krieg verblieben ist", schreibt Philipps Westberliner Hauswirtin an Philipps Familie. 

    Die Berliner Staatsanwaltschaft nimmt 1991 Ermittlungen auf

    Nach dem Fall der Mauer nimmt die Berliner Staatsanwaltschaft im Jahr 1991 die Ermittlungen erneut auf. Anhand verschiedener Akten werden die Grenzposten ausfindig gemacht, die in der Nacht zum 5. Mai 1964 auf Philipp trafen. Beide räumen, so die Darstellung von Historikerin Christine Brecht, ein, dass der damalige Unteroffizier G die tödlichen Schüsse auf Philipp abgegeben habe. Dieser behauptet, er habe sich von Philipp bedroht gefühlt und in Notwehr gehandelt. Vom zweiten Grenzposten wird dies bestätigt. Es kommt schließlich nicht zur Anklageerhebung, das Verfahren wird eingestellt. 

    Ein junger Mann steht im April 1984 auf einem Aussichtspodest vor dem Brandenburger Tor und blickt über die Berliner Mauer nach Ostberlin.
    Ein junger Mann steht im April 1984 auf einem Aussichtspodest vor dem Brandenburger Tor und blickt über die Berliner Mauer nach Ostberlin. Foto: Wolfgang Kumm, dpa (Archivbild)

    Philipps Tod ist, wie eine seiner Schwestern später formuliert, "unfassbar, jedoch nicht sinnlos". Er habe gewollt, dass sich an der Mauer etwas bewege, nach seinem Tod habe ganz Deutschland auf diesen grausamen Mord geschaut. 25 Jahre nach dem Tod Philipps verfolgt seine Mutter Rosina am Fernseher die Ereignisse in Berlin und den Fall der Mauer: "Wir hatten immer gehofft, dass dieser Tag einmal kommt." Vielleicht gerade jetzt, in diesen Zeiten so vieler neuer Kriege und Krisen, ist dies eine bleibende, beeindruckende Botschaft. 

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