„Karneval“ feiert man im Rheinland, aber auch in Venedig oder Rio de Janero, „Mardi Gras“ in New Orleans, „Fasching“ in Sachsen, Bayern und Österreich. In Jettingen sagt man dazu „Fasnat“, wie im gesamten Schwäbisch-Alemannischen und auch im Fränkischen. Von dieser Jettinger Fasnat hat die 83-jährige Franziska Stegherr einiges zu erzählen. Da sind zum Beispiel die Erinnerungen an ein "riesiges Schiff" im Jahr 1939 - das Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann. Und natürlich auch die Gedanken an ihre Faschingserlebnisse als Marktfrau "Rote Mariann" im Jahr 1977.
Auf dem großen Tisch der Schneiderei ihres ehemaligen Bekleidungshauses hat Franziska Stegherr einen ganzen Korb voll Fotos zur Jettinger Fasnat ausgebreitet. Die meisten sind Schwarzweiß, die farbigen haben mit den Jahren einen Lila- oder Rotstich bekommen. Die ältesten sind schon rund 100 Jahre alt, aufgenommen hat sie Franziska Stegherrs Mutter, die bereits früh einen Fotoapparat besaß. Noch viel älter, sicher mehrere hundert Jahre alt, sind die legendäre Jettinger Fasnat und ihre Bräuche.
Die Jettinger Fasnat beginnt am Sonntag
Die Jettinger Fasnat beginnt am Fasnatsonntag mit der Übergabe der Fahne durch den Bürgermeister an die drei Fähnriche, die Organisatoren der Fasnat. Mit dem Hanswurst und dem Trommler ziehen diese dann durch den Ort zum „Rumschwenka“ der Fahne und zum „Pfändra“. Der Zug lädt mit Sprüchen und dem Narrenruf „Narrade Juhu!“ zur Fasnat und sammelt „Pfänder“, also Geld, für den Umzug.
Früher sind Kinder armer Leute mitgelaufen, sagten "Heischesprüche" auf und bekamen Geld dafür. Franziska Stegherrs Vater Konrad Hafner war wie später seine Tochter bei der Jettinger Fasnat aktiv. Er war Rechner bei der Genossenschaftsbank, deshalb wurde das beim „Pfändra“ eingesammelte Geld in seine Obhut gegeben. Am Sonntagabend findet auch heute noch der Fähnrichsball statt.
Am Faschingsdienstag gibt es einen besonderen Höhepunkt
Höhepunkt ist der Umzug am Faschingsdienstag, an der eigentlichen Fasnat. Wie Franziska Stegherr aus eigener Erinnerung und Erzählungen ihrer Eltern weiß, waren bestimmte Figuren und Rituale schon immer fester Bestandteil des Zugs. Das Spektakel beginnt mit dem „Rumäckra“: Drei „Bauern“ führen ein Pferd mit einem Pflug und säen Getreide. Der Brauch erinnert an den Wiederaufbau Jettingens nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) durch drei Brüder, die drei Burkhards. Von diesen stammt auch der Name des Fasnatvereins, der Burkhardia.
Franziska Stegherr erzählt, dass sie als Kind fürchterliche Angst vor dem „Kürassbuckel“ hatte. Das ist eine die Pest, den Teufel und das Böse insgesamt darstellende vermummte Gestalt, die auf einer Ackerschleife liegend von einem Pferd gezogen wird. Mit „Saublaotra“, aufgeblasenen Schweinsblasen, wird mit lautem Knallen auf sie eingedroschen, um sie sinnbildlich zu vertreiben. Ein Bärentreiber, der mit einem riesigen Käsequirl herumschepperte, an dem Blechdosen befestigt waren, gehörte früher ebenfalls zum Zug. Vor dem zottligen, wild herumtanzenden Bären hat sich die kleine Franziska auch sehr gefürchtet.
Ihr Vater baute im Jahr 1939 ein riesiges Schiff
Ihr Vater war begeistert beim Bau der Umzugswagen dabei. In den 1930er Jahren zimmerte er ein richtiges Kinderkarussell auf einen Wagen. 1939, im Jahr des Kriegsbeginns, baute er ein riesiges Schiff, das mehrere Pferde ziehen mussten, so schwer war die Last der vielen Passagiere, vor allem Kinder und junge Leute. Mit an Bord war der bekannte Kirchenmusiker Heinrich Barthelmes mit seinem Akkordeon. Begleitet wurde das Schiff vom damaligen Bürgermeister Alois Böhm, dem Großvater des heutigen Bürgermeisters Christoph Böhm. Als das Schiff fotografiert wurde, wäre fast ein Unglück passiert. Um ja aufs Bild zu kommen, drängten sich alle Passagiere auf eine Seite, sodass das Schiff Schlagseite bekam und beinahe gekippt wäre.
Im Jahr 1950 weckte Frau Stegherrs Vater Tage vor der Fasnat die Neugier der Bevölkerung, als er mit langen Stangen die Durchfahrtshöhen unter den Straßenlaternen ausmaß. Heimlich bastelte er ein Riesenrad mit wahrlich riesigen Ausmaßen auf einen Wagen. Das Rad ließ sich mit einer Kurbel tatsächlich drehen, zur Freude der Kinder in den Gondeln.
Bei den Umzügen ist das schauspielerische Geschick der Teilnehmer gefragt. Durchgestylte, perfekte Masken zu kaufen, war in Jettingen früher allerdings nicht üblich. Man bediente sich der Dinge, die der Kleiderschrank oder die Rumpelkammer hergaben. Beliebt war es, einen bestimmten Beruf darzustellen und man trug zu diesem Zweck die entsprechenden Utensilien, etwa eine riesige Schere als Symbol eines Schneidermeisters. Mit einfachen Mitteln verkleidete man sich als jemand aus einer fremden Kultur. Für eine arabische Kopfbedeckung genügte etwa eine mit Stoff überzogene Käseschachtel. Dann brauchte man sich nur noch einen alten Vorhang umzuhängen und fertig war die Haremsdame. Männer verkleideten sich häufig als Frauen und Frauen als Männer. Aktuelle Ereignisse wurden immer schon gerne aufgegriffen, wie 1978 ein Skandal um vergiftete Orangen im Handel oder 1996 das Ozonloch.
In früheren Jahren waren historische Themen und Gestalten besonders beliebt, wie Ende der zwanziger Jahre Mozart und seine Schwester Nannerl. Der Jettinger Kirchenmusiker Johann Ernst Eberlin war nämlich lange ein Lehrer Mozarts in Salzburg. 1985 wurde an die 15 Jahre zurückliegende Vereinigung der Orte Jettingen und Scheppach erinnert.
Die Fasnat von 1953 ist Frau Stegherr in besonderer Erinnerung. Das Motto damals war der Besuch Kaiser Karls V., der 1530 und 1552 Gast im Jettinger Schloss war. Der riesige Zug mit dem Kaiser und seinem Hofstaat, vielen Pferdekutschen, einer Jagdgesellschaft, die sogar Falken bis sich hatte, waren ein überwältigender Anblick. Frau Stegherr war damals 13 Jahre alt und durfte als die Dichterin und Chronistin Isabella Braun in einer Kutsche fahren. Der ausladende Reifrock mit dem eigens angefertigten Drahtgestell war gewöhnungsbedürftig, ebenso wie die „Stopsellocken“, für die sie mehrere Tage vorher unter einer Mütze Zeitungspapierstreifen im Haar tragen musste.
Das Foto der "Roten Mariann" hat einen Rotstich bekommen
Als die Kinder noch klein und Geschäft, Schneiderei und obendrein der Haushalt zu bewältigen waren, hatte Franziska Stegherr wenig Zeit für Fasnatvorbereitungen, 1977, als auch noch ein Haus gebaut wurde, etwa nur eine knappe Stunde. Da war Spontaneität und Fantasie gefragt. Sie packte Schnapsflaschen, Gläser und einen Korb voll schnell noch beim Bäcker besorgte Brezen in einen alten Kinderwagen, setzte eine rote Perücke auf den Kopf, suchte eilig ein Marktfrauenkostüm zusammen und fertig war die „Rote Mariann“ für den Umzug. Ob dieses Motto auf das Erinnerungsfoto abgefärbt und für den Rotstich gesorgt hat?